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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0119
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26

Psychologie der Weltanschauungen

sehen Richtigkeit können wir fragen nach der seelischen Wirklichkeit der Wirkung. Je
länger wir uns mit diesen weltanschaulichen Inhalten beschäftigen, desto mehr Ana-
logien wiederkehrender Formen bemerken wir. Daß die Seelen fallen, ihre Heimat ver-
lassen, hier auf der Erde Fremdlinge sind, daß frühere Tat aus vergangenen Existenzen
als Karman fortwirkt und dies gegenwärtige Leben bestimmt, daß es Dämonen gibt,
daß es eine Menschheitsgeschichte übersinnlicher Zusammenhänge, einen gefahrvol-
len einmaligen Prozeß gibt usw., solche Gedanken mögen falsch, unsinnig, täuschend
sein, die menschliche Seele hat eine Artung, die sich in solchen Gedanken ausdrückt.
Sie erlebt und bewegt in sich etwas auf eine Weise, daß jene Objektivierung dafür als
treffender Ausdruck, als Offenbarung und selbstverständlich anerkannt wurde und
wird. Subjektive Erfahrungen waren ihre Quellen, und diese Erfahrungen als solche
sind auf alle Fälle wirklich.
Man nennt es Psychologismus,26 wenn versucht wird, durch Darstellung der psy-
chologischen Zusammenhänge etwas abzutun. Etwas gelte oder gelte nicht, gleichgül-
tig, wie es entstanden sei. Es ist auch Psychologismus auf die eben angedeutete Weise
etwas dadurch, daß es wirklich ist, zu rechtfertigen. Beides liegt uns, sofern wir bei psy-
chologischer Betrachtung bleiben, ganz fern. Beides ist aber gleich möglich, und der
Psychologismus kann ebensowohl als ein Alles Bemäkeln und Verurteilen, wie als ein
Alles Anerkennen und Bestaunen auftreten. Wir wollen nur sehen und wissen, was see-
lisch wirklich war und möglich ist.27
5 | Dabei wissen wir, was das Rationale ist und wissen, daß unsere ganze universal ge-
meinte Betrachtung von Weltanschauungen rationales Tun ist. Wir sind dadurch be-
wußt in der Lage, uns durch unser rationales Tun nicht als Menschen zerstören zu las-
sen, indem wir etwa diese Betrachtung verabsolutieren und fälschlich meinen, damit
das Leben zu haben, während sich nur eine Art von Leben im Rationalen zum Ausdruck
bringt. Allerdings wissen wir nie, welche Kräfte in uns das Rationale als Mittel benut-
zen; das »Interesse«, die »Ideen«, das »Wesentliche« sind rationale Gesichtspunkte der
Auswahl und Gestaltung unseres Stoffes, die immer die Gefahr mit sich führen, frem-
den Kräften in der Gestaltung der Erkenntnis Zutritt zu gestatten. Wir wissen ferner nie,
welche unbemerkte Weltanschauung uns letzthin treibt, wir sind immer bereit und dar-
auf eingestellt, diese Kräfte wieder bewußt zu machen und in den Bereich des Ange-
schauten zu erheben, aber der Weg des Erkennens dieser treibenden Kräfte ist unend-
lich in immer weiter gehender Reflexion.
Rationales Begreifen ist nicht Wirken. Die Dinge, von denen wir betrachtend han-
deln, gehören an sich zu den allerwirksamsten in der Seele. Indem wir sie betrachten,
wollen wir uns aber in Distanz der Kraftlosigkeit, vorübergehend in keine Sphäre stel-
len. Wir stehen der Absicht nach außerhalb, von wo wir uns am Wirken und Erfahren
von Wirkungen nicht oder nur indirekt beteiligen.
Dies bloße Wissen aus rationaler Betrachtung kann über die Erkenntnis hinaus wir-
ken, insofern es befreit oder hemmt oder vorsichtig macht, es kann ein Mittel werden,
 
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