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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0123
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Psychologie der Weltanschauungen

terialien psychologischer Einsicht ist diese zweite Quelle reicher, für die Kräfte, die uns
zur psychologischen Einsicht überhaupt treiben und die Prinzipien, die uns dabei be-
wußt oder unbewußt leiten, ist die erste Quelle entscheidend.
3. Die genannten Quellen erlauben uns nur die gewonnenen Abstraktionen, nicht
die Erfahrungen selbst in ihrer individuellen Konkretheit mitzuteilen. Sie sind ferner
doch relativ einseitig und arm, so lebendig, so unmittelbar, so entscheidend für un-
sere psychologische Anschauungswelt sie auch sind. Wohl ist uns eigenes Erleben in
der Bewegung des Widerspruchs, zufälliges Erfahren und Beobachten in der Versen-
kung in Situationen und Sphären die unmittelbarste und wichtigste Quelle psycholo-
gischer Einsicht, aber Weite und Fülle für die Veranschaulichung vermag erst die Masse
ausgeprägter Persönlichkeiten und ihrer Werke zu geben, die uns nicht selbst, sondern
nur indirekt im historischen Material gegeben sind. Diesem Material wendet sich der
Psychologe zu, um seinen Stoff zu finden. Reisen in die Vergangenheit geben ihm mehr
oder weniger vermittelt, mehr oder weniger nur verstanden und gedeutet, nicht direkt
erfahren, eine Welt unerschöpflichen Reichtums. Nicht dieses Reichtums wegen, nicht
epikureisch den Geist genießend dringt er in diese Gestalten ein, sondern unter der
Idee des Menschen, für uns unter der Idee eines Kosmos der Weltanschauungen. Er
braucht hier kein neues Material zu schaffen, aber alles Material wird ihm auf beson-
dere Weise gegenständlich. Er nimmt aus einem unausschöpfbaren Meer, nicht um
dieses Meer als solches zu überblicken, wie der Historiker, sondern um Fälle (casus) zu
finden. Das ihm spezifische Material ist letztlich biographische Kasuistik von einzel-
nen Menschen, dann auch die Gestalt ganzer Menschengruppen und Zeiten.
Vergleichen wir das Verhalten des Philosophen, des Historikers und des Psycholo-
gen zu den Weltanschauungen, die sich in dem Material der Vergangenheit ausspre-
chen: Von Weltanschauungen handelt der prophetische Philosoph, und zwar kritisch,
polemisch oder zustimmend, mit dem Ziel, die eine Weltanschauung, die ihm richtig
erscheinende Weltanschauung vorzutragen, sei es, daß er andere Weltanschauungen
ganz ablehnt, sei es, daß er sie als »Momente« in sein System als »aufgehoben« hinüber-
nimmt. Der Historiker der Philosophie und des Geistes stellt Weltanschauungen inhalt-
lich dar, in ihren zeitlichen, kulturellen Bedingungen, ihrem sachlichen und chrono-
logischen Zusammenhang, ihrer Beziehung zu den Persönlichkeiten der Philosophen,
ihren besonderen einmaligen Eigenschaften. Der Psychologe gleicht dem Historiker
10 da, wo dieser sich psychologischem, | charakterologischem Begreifen der Philosophie
und der Philosophen hingibt; er gleicht aber dem Philosophen darin, daß sein Ziel nicht
das historische Begreifen als solches, das historische Begreifen der ganzen Philosophie
ist, sondern eine systematische Anschauung des Menschen in seinem weltanschauli-
chen Ausdruck. Der Psychologe sieht in dem historischen Material eine Fundgrube für
illustrierende Fälle, ihm ist die Vergangenheit, was dem Psychopathologen die Klinik
ist: er sucht sich ihm geeignet scheinende Fälle heraus, worin er mehr oder weniger
Glück haben kann. Er läßt beiseite, was vielleicht der historischen Bedeutung nach sehr
 
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