Metadaten

Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0129
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
36

Psychologie der Weltanschauungen

das alles, was man im einzelnen instinktiv als wichtig empfunden hat, etwas zu ord-
nen. Identisches, das uns in verschiedenen Worten oder in verschiedenen Sphären
zum Ausdruck kam, legt man zusammen. Das Vorhandene steht als wahllose Reihe
hintereinander. Man fühlt nach, wo Zusammengehöriges, Verwandtes, wo Beziehun-
gen in irgendeinem Sinne zu finden sind. So ordnen sich kleine Gruppen innerer Sy-
stematik, ohne daß man noch recht weiß wie, zusammen. Die Gruppen stehen nun
auch nur aufgezählt nebeneinander. Das Verfahren setzt sich fort, aber wir bleiben am
Ende immer beim Katalog bloßer Aufzählung, in dem nur mehr und mehr einzelne or-
ganische Bildungen zusammenhängender Einsicht entstehen. Es leitet uns der Glaube,
daß wir uns irgendwie auf ein natürliches System, in dem der Kosmos der Weltan-
schauungen anschaubar wäre, zubewegen; wir fühlen eine solche Idee. Aber wir besit-
zen doch nur Schemata. Instinktiv wehren wir uns, irgendeines dieser Schemata zum
alleinherrschenden System zu erheben; wir merken, daß wir damit alles vergewalti-
gen, daß wir uns selber und andere, die es etwa annehmen möchten, geistig totschla-
gen würden. Statt dessen suchen wir das eine Schema durch das andere zu paralysie-
ren; wir suchen zwar Schemata auszubilden, aber durch deren Mehrzahl uns selbst in
der Schwebe zu erhalten. Trotz allem systematischen Bemühen sind wir also nie fer-
tig, sondern haben immer statt eines wirklichen Systems doch zuletzt nur einen Kata-
log, statt eines alles dirigierenden Systems eine Reihe sich überlagernder, ausschlie-
ßender, relativer Schemata. - Mit dem jeweiligen Gerüst von Ordnung, diesem Skelett,
nehmen wir nun weiteren Stoff auf, in biographischen, historischen Studien, leben-
digen Betrachtungen des Gegenwärtigen. Der Strom dieses Stoffes ist unerschöpflich.
Vieles lassen wir vorbeigehen, weil es uns nicht interessiert. Was uns irgendwie als we-
sentlich auffällt, das halten wir fest, fragen, wohin es gehört. So tritt eine Wechselwir-
kung zwischen unseren systematischen Gerüsten und den neuen Materialien ein: das
Neue wird entweder in vorhandenen Formen aufgefaßt, identifiziert, es wirkt berei-
chernd, aber das Gerüst kann es aufnehmen; oder es wird mit Deutlichkeit und Klar-
heit als neu erkannt, es wird begriffen, daß dieses noch keinen Ort hat, das Gerüst er-
weitert sich, oder das ganze Gerüst wird umgebaut.
Die Frage, wohin denn die ganze Ordnung führe, was denn ihr Sinn sei, wonach denn
geordnet werde, läßt sich zunächst nicht anders beantworten: Hingabe an jeden beson-
17 deren Stoff läßt uns irgendeinen ordnenden Gesichtspunkt finden. Wir glauben, daß
in unseren Instinkten Ideen uns leiten, daß unser Interesse nicht letzthin subjektiv -
willkürlich sei. Dafür können wir keine Begründung, geschweige einen Beweis geben.
Ist bei der Ordnung eine Idee, so bleibt sie ganz unklar, bis das Ganze einen gewissen Ab-
schluß auf einer Stufe gefunden hat, die mitteilbar ist. Namen kann man wohl geben,
z.B. daß die Idee einem Kosmos der Weltanschauungen zustrebe, daß sie eine wertungs-
freie Totalanschauung meint u.dgl. Aber das bleibt ohne Durchführung nichtssagend.
Hat man eine Zeitlang in dieser unbestimmt geschilderten Weise sich um systema-
tische Ordnung in seinen Anschauungsinhalten bemüht, so bemerkt man einige Ge-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften