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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0130
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Psychologie der Weltanschauungen

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setzmäßigkeiten alles Systematischen, deren bewußte Kenntnis uns die Kräfte, aber
auch die begrenzte Bedeutung jeder systematischen Ordnung zeigt. Diese Gesetzmä-
ßigkeiten sind folgende:
1. Jede Systematik wirkt geradlinig, steht immer als eine einreihige Folge da,
schließt sich vielleicht einlinig zu einem Kreise. Die Sache aber ist fast nie so. Während
die Sache vieldimensional ist, ordnet man in jedem Augenblick eindimensional; wäh-
rend sie problematisch viele Zentren hat, ordnet man, indem man vielleicht viele ein-
dimensionale Reihen aus einem Zentrum entwickelt; während die Sache konkret und
unendlich ist, wird sie in ordnender Formung abstrakt und endlich. Man hilft sich da-
durch, daß man an die einzelnen Glieder Nebenreihen, also weitere Dimensionen an-
legt, daß man mehrere Zentren zueinander in Beziehung setzt und aus jedem eine
Strahlenkugel von Reihen sich entfalten läßt. Aber man bleibt immer mehr oder we-
niger an letzthin räumliche Schemata gebunden, während die Sache vielleicht jedem
noch so verwickelten System von Gliedern, Dimensionen, Orten inkommensurabel
ist. Unsere Ordnung ist eine Gewaltsamkeit und dann vielleicht wieder ein Einschrän-
ken dieser Gewaltsamkeit.
2. Beim Ordnen bemerken wir in uns einmal das Bestreben, die anschaulichen Ge-
stalten, die gesehenen Zusammenhänge einfach hinzustellen, nebeneinanderzustel-
len und einen Katalog zu liefern. Dann aber beherrscht uns die Intention, daß - wie
in der Seele alles zusammenhängt - so auch die Grenzen der menschlichen Situatio-
nen, die weltanschaulichen Stellungen, die Kräfte etwas Einheitliches seien, daß sich
gleichsam in viele Farben gebrochen und immer in Gegensätzen sich zur Erscheinung
bringe. Beim Ordnen erscheinen uns zunächst wohl die Gestalten gleichsam als Fä-
cher und als Möglichkeiten, in die der Mensch eintritt oder nicht eintritt, und vom
einzelnen Menschen erwartet man wohl, daß er hierhin und nicht dort|hin »gehöre«.
Dann aber erscheint uns jeder Mensch als das Unendliche selbst, dem alle Gestalten angehö-
ren oder in dem sie potentiell vorgebildet sind. Dann sind alle die geordnet zu schildern-
den Typen nicht letzte Möglichkeiten, für die der einzelne Mensch sich entscheidet, sondern
Stellungen, in die er geraten kann, die er aber alle mit seinem Leben übergreift, wenn man
es als Gesamtheit seiner möglichen biographischen Entfaltung sieht. Jeder Mensch
durchdringt gleichsam den ganzen Kosmos der Weltanschauungen, aber sein Wesen
pflegt an einzelnen Orten dieses Kosmos heller zu strahlen, an anderen kaum noch
sichtbar zu sein. Je mehr die systematische Idee uns beherrscht, desto mehr sind wir
auf Einheit eingestellt, desto mehr ist der Mensch das unerkennbare Ganze, das in den
vielen Gestalten so zur Erscheinung kommt, wie die Radien aus einem Zentrum strah-
len. Aber es gelingt nicht, restlos alle Phänomene so auf ein Zentrum zu beziehen - das
System würde vollendet, die Welt in der menschlichen Seele erkannt sein -, sondern
wohl oder übel stranden wir immer wieder an Gegensätzen, an bloßen katalogartigen
Aufzählungen. Von der Einheit zu reden ist fruchtlos, sie zu beweisen unmöglich, sie
zu widerlegen ebenso unmöglich. Sie ist eine Idee, deren Verwirklichung in systema-

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