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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0133
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Psychologie der Weltanschauungen

alle gegenständlichen Welten uns nicht das Ding an sich als Objekt vor unser Auge stel-
len, ist uns seit Kant geläufig. Jede Welt kann man als Perspektive, gesehen vom Sub-
jekt her, auffassen (Teichmüller,39 Nietzsche), Subjekt und Objekt sind gleichsam
gegenseitig eines der Schatten des anderen, durch einander bestimmt und bedingt. In
21 der Subjekt-Objekt-Spal|tung4° läßt sich wohl irgend etwas als absolut setzen, die räum-
lich-zeitliche Realität, der Sinn oder Wert, die Welt oder die Seele usw.; aber jede solche
Verabsolutierung findet ihre Feinde in entgegengesetzten Verabsolutierungen und da-
durch ihre Auflösung. Nur im Mystischen glaubt der Mensch das Absolute zu erfahren
und ist ohne Gegner, sofern er nichts als Objekt behauptet, nicht das Ding an sich sich
gegenüber, sondern in ungeschiedener Subjekt-Objekt-Einheit gegenwärtig hat.
Der Gedanke der Mannigfaltigkeit der Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt
und der vielen Bedeutungen, die Subjekt und Objekt als etwas gar nicht Festes anneh-
men, ist der Grundgedanke unseres systematischen Suchens und Ordnens. Das ist nä-
her auszuführen.
Das seelische Geschehen in seiner Totalität heißt der Erlebnisstrom,41 Erlebniswirk-
lichkeit, unmittelbares Leben, ursprüngliche Erfahrung usw. Er umfaßt das Ganze des
seelischen Geschehens in seiner bloßen Erscheinung, er ist das Unbestimmteste, von
dem sprechend man noch nichts weiß als Allgemeinheiten. Diese unmittelbare Erleb-
niswirklichkeit ist an sich das Konkreteste, wenn auch der Hinweis auf sie mit dieser
Benennung das Leerste und Abstrakteste ist. Ihr ist alles immanent. Aus ihr löst die Psy-
chologie von den verschiedensten Gesichtspunkten her das Bestimmte heraus, sie kon-
struiert sie, zu ihr denkt sie Außerbewußtes hinzu. Der Erlebnisstrom produziert fort-
während Gebilde, Ausdrucksphänomene, Inhalte, Schöpfungen. Mit diesen Produkten
wandelt er sich selbst.
In dem Erlebnisstrom ist das Urphänomen eingebettet, daß das Subjekt Objekten
gegenübersteht. Unser Leben verläuft in dieser Subjekt-Objekt-Spaltung. In ihr allein ist
für uns alle Mannigfaltigkeit. Aber nicht alles Erleben geschieht in Subjekt-Objekt-
Spaltung. Wo kein Objekt mehr gegenübersteht, also jeder Inhalt fehlt, darum auch
unsagbar ist und wo doch erlebt wird, sprechen wir im allerweitesten Sinne vom My-
stischen. Die erlebte Subjekt-Objekt-Spaltung sowohl wie das Mystische sind uns Ge-
genstand der psychologischen Betrachtung, und zwar hier nur ihre Grenzen und äu-
ßersten Möglichkeiten.
So psychologisch betrachtend sind wir aber selbst Subjekte, und das Subjekt-Objekt-Verhält-
nis als Ganzes unser Objekt. Auch diese psychologische Betrachtung, wie jede, wird aber als Sub-
jekt-Objekt-Verhältnis spezifischer Art unser Gegenstand, wenn wir, bis zu den letzten erreich-
baren Grenzen strebend, die Weltanschauungen verstehen wollen. In jedem Augenblick, in dem
wir denken und urteilend formulieren, gilt das Gesagte auf einem Standpunkt, für diesen Stand-
22 punkt. Kein Begriff, kein Prinzip | auch dieses psychologischen Buches darf darum absolut ge-
setzt werden, auch nicht unsere letzten und dunkelsten Begriffe: Erlebniswirklichkeit, Subjekt-
Objekt-Spaltung, Idee, Geist, Leben, Substanz, Echtheit. Wir möchten also aus uns heraus, über
 
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