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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0139
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Psychologie der Weltanschauungen

zeit bei aller Unbedingtheit potentiell als schon überwindbar erlebt wird. Der Mensch
ist in der Zeit und ist nicht das Zeitlose, er ist auch nicht das Ganze und Absolute des
Daseins, sondern nur in bezug darauf. Er kann gar nicht die überall und für immer rich-
tige Weltanschauung von außen erhalten, sondern nur in seinem Leben kraft der Ideen
und des Geistes erfahren, indem er sie verwirklicht. Alles, was äußerlich wird, wird als-
bald in der Zeit auch wieder relativ. Das Letzte sind die Kräfte und Ideen, diese sind von
uns zwar nie zu umgreifen, aber zu intendieren. Was wir von ihnen wissen und sagen,
ist damit äußerlich. Sie selbst, als das Letzte, könnten als das Absolute bezeichnet wer-
den (wenn auch nur für den Kreis der Betrachtung), sie sind das Leben selbst, das nie
ganz und gar äußerlich, objektiv wird, wenn auch immer dahin drängt.
Der letzte Gesichtspunkt zeigte das Subjekt-Objekt-Verhältnis in Bewegung. Fixiert
man einzelne Gestalten, die der weltanschauliche Prozeß in dieser Bewegung an-
nimmt, so erhält man Stadien von Entwicklungsreihen. Eine Entwicklungsreihe ist uns
die wünschenswerteste systematische Ordnung, weil sie zugleich einen realen inne-
ren Zusammenhang zu lehren scheint. Überall suchen wir daher nach solchen Reihen,
verfallen auch leicht der Verführung, bloße gedankliche Reihen in reale Entwicklungs-
reihen umzudeuten. Empirische Untersuchung stellt zunächst einfache Reihenfolge
fest und fragt dann, wieweit darin innere, verstehbare Gesetzmäßigkeiten zu finden
sind: in den historischen Gestalten der Reihe der sich folgenden Zeiten, Stilformen
nicht anders als in der zeitlichen Folge in den Stellungen des Einzelindividuums. Was
man als evidente, notwendige Entwicklungsreihen konstruiert, fällt fast nie mit der
Wirklichkeit, der gegenüber alle solche Gesetzmäßigkeiten bloße Schemata sind, völ-
lig zusammen. Doch findet eine teilweise Deckung statt, ein Zeichen, daß jene eviden-
ten Konstruktionen nicht immer ganz unwirklich sind. Jedenfalls befindet man sich
sofort im Irrtum, wenn man ein Entwicklungsschema für das Gesetz der menschli-
chen Entwicklung überhaupt hält. Es gibt viele Schemata, die jedes etwas lehren, kei-
nes und auch nicht alle zusammen das unergründlich Wirkliche erschöpfen. Die Phi-
losophen, welche durch Aufstellung solcher EntwicklungsStadien das Ganze zu
29 erfassen versucht haben, | pflegen diese Reihe in ihrer Bedeutung zwischen apriori-
scher Evidenz, zeitloser Geltung der nur ordnenden Begriffszusammenhänge und tat-
sächlicher Folge schwanken zu lassen. Diese Vieldeutigkeit hat z.B. Hegels Weg des
Geistes.
Wir haben es in unserem Versuch nur zu tun mit den evidenten Zusammenhän-
gen, die für jeden empirischen Einzelfall nicht einfach Geltung, sondern nur Frucht-
barkeit als Maßstab und Schema beanspruchen, also realistischer Untersuchung im
konkreten Einzelfall bedürfen. Solcher evidenter Reihen bilden wir dreierlei Art:
1. Mannigfaltige Prozesse der Bildung und Zerstörung durch geistige Kräfte (im 3. Teil
dieses Buches), wie z.B. die Prozesse zum Nihilismus, den dämonischen Prozeß usw.
Von ihnen ist hier nicht weiter zu reden.
 
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