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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0165
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Psychologie der Weltanschauungen

so weit, als sie gebraucht werden, soweit als Erkenntnisse technische Mittel werden
können. Es ist ein Sprung in der Einstellung, wenn die Sachen selbst als solche ange-
schaut und erkannt werden sollen, wenn die Interessen des Willens fortfallen und die
Welt der Gegenstände nur noch dazu da scheint, sich in sie zu versenken, nur dazu da
ist, erkannt zu werden.
Die kontemplative Einstellung ist eine Mannigfaltigkeit, die zu beschreiben ist. In-
nerhalb der kontemplativen Einstellung gibt es bei aller Gemeinsamkeit der sachli-
chen, »interesselosen« Hingabe viele Arten. Die Philosophen haben oft alle diese Ar-
ten des Kontemplativen »Denken« genannt. Für Descartes z.B. ist alles Bewußte im
Gegensatz zum Ausgedehnten ein Denken. Für Hegel ist aller menschliche Gehalt des
Bewußtseins im Gegensatz zum tierischen Denken, mag dieser Gehalt nun in der Form
des Gefühls, der Anschauung, der Vorstellung oder in der Form des Gedankens vor-
handen sein. Die in unserer Zeit oft selbstverständliche Meinung, es gebe bloß die
sinnliche Wahrnehmung und das Denken als Quelle für die Gegenstände der kontem-
plativen Einstellung, ist für die psychologische Deskription unbedingt aufzugeben:
Das Anschauliche, Unmittelbare, das Material, das erst zu formen ist, geht weit über
die sinnliche Anschauung der bloßen Wahrnehmung hinaus.
Es ist zunächst zweckmäßig, sich historisch Gedanken der Philosophen, wie sie im
Laufe der Jahrtausende aufgetaucht sind, zu vergegenwärtigen. Man macht die Erfah-
rung, daß bei aller Verschiedenheit in ihren Grundanschauungen fast alle diese Phi-
losophen eine erstaunliche Übereinstimmung in der bloßen Deskription der Arten des
Kontemplativen haben. Zwar ist die weitere Bedeutung sofort eine sehr wechselnde,
aber die unmittelbare Deskription bleibt darum doch analog, wenn auch die Formu-
lierungen durch jene weitere Weltanschauung, der sie angehören, bedingt sind.
Die Lehren der Philosophen.
Nur in einer Auswahl und in knappster Form sollen zum Vergleich die Lehren von Plato,
Eckhart, Spinoza, Kant, Schopenhauer und Hegel nebeneinander gestellt werden:
Zwei Vermögen, Gegenstände zu erfassen, stellt Plato überall einander gegenüber, die bloße
Vorstellung (Meinung) und die echte Erkenntnis (Vernunft). Die Erkenntnis ist auf das Seiende ge-
richtet, das zeitlos und unveränderlich ist, auf das Denkbare im Gegensatz zum Sichtbaren, auf
die Ideen im Gegensatz zu Einzeldingen. Die Vorstellung (Meinung) ergreift etwas, das zwischen
Seiendem und Nichtseiendem steht, das ein Mittleres ist, dunkler als die wahre Einsicht, heller
60 als die Einsichtslosigkeit. Die | Gegenstände der Vorstellung sind alle gegensätzlich, doppelt:
schön und häßlich, gerecht und ungerecht; sie sind vielerlei Schönes, aber nicht das Schöne;
sie entstehen und vergehen, sind und sind nicht. Die Meinung stellt alles vor, aber sie erkennt
von dem, was sie vorstellt, nichts. Die Vernunft erfaßt die Urbilder, die Vorstellung die Unzahl
der Nachbilder, Spiegelungen, die bloßen Erscheinungen. Die Vernunft ergreift unmittelbar
kraft ihres dialektischen Vermögens (= begriffliche Erkenntnis) die Ideen selbst, die Meinung
das bloß sinnlich Wahrnehmbare. Die Menschen, die sich lieber dem Sichtbaren oder die sich
lieber dem Denkbaren zuwenden, unterscheidet Plato als Meinungliebende und Weisheitslie-
 
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