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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0167
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Psychologie der Weltanschauungen

oder als in Gott enthalten und aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur folgend (das ist das-
selbe wie sub specie aeternitatis). »Je weiter jeder in dieser Erkenntnisgattung gelangt ist, desto
mehr ist er sich seiner selbst und Gottes bewußt, d.h. desto vollkommener und glückseliger ist
er«67; »amor intellectualis dei«68 ist der notwendige Ausdruck dieser Erkenntnisgattung.
Kant kennt drei Vermögen: Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft oder die Vermögen der An-
schauung, der Begriffe und der Ideen. Die Sinnlichkeit gibt uns Anschauungen, Material, Fülle,
der Verstand Formen, Grenzen, Bestimmtheit (Anschauungen ohne Begriffe sind blind, Begriffe
ohne Anschauungen sind leer),69 und die Vernunft gibt mit den Ideen die Richtung ins Gren-
zenlose, Unendliche und von daher die leitenden Gesichtspunkte für Forschungsrichtung, Ord-
nung, Systematik. Der formale Apparat der Begriffe bekommt von der Anschauung her die Fülle,
von den Ideen her die bewegenden Kräfte.70
Schopenhauer verschiebt den Wortgebrauch, indem er sowohl »Vernunft« wie »Idee« in ei-
nem ganz anderen Sinne braucht als Kant. Er stellt die Arten des gegenständlichen Stoffes den
subjektiven Erlebniskorrelaten gegenüber. Aus seinen Schriften läßt sich diese Tafel zusammen-
stellen:

subjektives Korrelat ist:
gegenständlicher Stoff ist:
Reine Sinnlichkeit 1
TT , Anschauung
Verstand J
Zeit, Raum, Materie
Vernunft
Begriffe
Erkenntnisart der Kunst = reines
willenloses Subjekt des Erkennens
Ideen

Reine Sinnlichkeit und Verstand geben das unmittelbare Sehen und Wissen. Aus den dumpfen
und nichtssagenden Empfindungen der reinen Sinnlichkeit macht der Verstand Anschauung
und hat diese - z.B. in der Auffassung von Kausalverkettungen - nicht reflexiv und diskursiv,
sondern intuitiv vor sich. Vernunft, dasselbe, was die deutschen Philosophen sonst »Verstand«
nennen, macht aus der intuitiven und einzelnen Anschauung ein bestimmtes und generelles
Wissen. Vermöge der Begriffe, die ihre letzte Quelle immer in der Anschauung haben, macht
62 sie das Wissen mitteilbar in | der Sprache, wirksam im besonnenen Handeln, systematisch und
geordnet in der Wissenschaft. Der Aöyog (= Vernunft = Reflexion) fixiert und begrenzt, ist aber
letzthin nur ein formaler Apparat, dessen ganzer Inhalt aus der Anschauung kommen muß. Die
Lehre von den formalen Eigenschaften und Gesetzen der Vernunft ist die Logik. Es gibt keine
»Vernunftanschauung«, vielmehr Anschauung allein in der reinen Sinnlichkeit im Verein mit
dem Verstände oder in der letzten Sphäre: Die Erkenntnisart der Kunst ergreift die Ideen im Pla-
tonischen (nicht Kantischen) Sinne, die ewigen Urbilder aller Einzeldinge. Sollen die Ideen Ob-
jekt werden, muß die Individualität des Menschen schwinden vor dem reinen erkennenden
Subjekt, das willenlos, strebenslos, interesselos nur schaut. Während alle vorigen Erkenntnis-
arten Beziehungen der Dinge untereinander oder zum Willen erfassen, so diese allein das We-
sen, das Was der Dinge. Die Anschauung des Verstandes ergreift das einzelne Ding, diese künst-
lerische Anschauung die Idee der Gattung. Kunst ist identisch mit Ideenerkenntnis, und
Ideenerkenntnis in reiner Kontemplation ist das Wesen der Genialität; vermöge des Stillstan-
des des willenmäßigen, interessierten Ergriffenseins zugunsten reiner Kontemplation wird die
vollendete Objektivität erreicht. So ist Genialität, Objektivität, Ideenerkenntnis, Kunst ein und
 
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