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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0168
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Psychologie der Weltanschauungen

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dasselbe. Ausdrücklich wird diese Ideenerkenntnis mit der dritten Erkenntnisgattung Spinozas
identifiziert und die Philosophie als ein Mittleres zwischen Wissenschaft (der Vernunft) und
Kunst (der Ideenerkenntnis) bezeichnet. »Der Begriff ist abstrakt, diskursiv, innerhalb seiner
Sphäre völlig unbestimmt, nur ihrer Grenze nach bestimmt, jedem, der nur Vernunft hat, er-
reichbar und faßlich, durch Worte ohne weitere Vermittlung mitteilbar, durch seine Definition
ganz zu erschöpfen. Die Idee dagegen, allenfalls als adäquater Repräsentant des Begriffs zu de-
finieren, ist durchaus anschaulich und, obwohl eine unendliche Menge einzelner Dinge vertre-
tend, dennoch durchgängig bestimmt«; sie ist nur vom Genius oder in genialer Stimmung er-
faßbar, nicht schlechthin, sondern nur bedingt mitteilbar. Der Begriff gleicht einem toten
Behältnis, aus welchem man nicht mehr herausholen kann, als man anfangs hineingelegt hat,
die Idee hingegen entwickelt sich in dem, welcher sie erfaßt hat, »sie gleicht einem lebendigen,
sich entwickelnden, mit Zeugungskraft begabten Organismus, welcher hervorbringt, was nicht
in ihm eingeschachtelt lag«.71
Hegel kennt die Anschauung, das verständige Denken und das vernünftige oder spekulative Den-
ken. Der Verstand bewegt sich in Gegensätzen, die einseitig festgehalten werden (in den Refle-
xionsbestimmungen), die Vernunft denkt die Einheit der Gegensätze, nicht indem sie sie leug-
net, nicht indem sie hinter den Verstand zurückgeht ins Unmittelbare, sondern indem sie
darüber hinausgeht zu vermittelter Unmittelbarkeit, in der die Arbeit des Verstandes, die Ge-
gensätze, erhalten, aber aufgehoben sind. Nur im spekulativen Denken kommt der Geist zu ei-
gentlicher Erkenntnis; z.B. den Begriff Leben vermag der Verstand nicht zu denken, weil Entge-
gengesetztes - nach dem Satze des Widerspruchs - von ihm ausgesagt werden muß. Er ist nur
spekulativ zu denken. Wenn Anschauung der Ausgangspunkt ist, so gibt es doch mehrere Ar-
ten von Anschauung, und Anschauung ist auch die Gestalt, in der zuletzt wieder das spekula-
tive Denken dauernder Besitz der Seele wird. Der Gegenstand der Anschauung hat die Bestim-
mung, »ein Vernünftiges, folglich nicht ein in verschiedene | Seiten auseinandergerissenes 63
Einzelnes, sondern eine Totalität, eine zusammengehaltene Fülle von Bestimmungen zu sein.
Geistlose Anschauung ist bloß sinnliches, dem Gegenstände äußerlich bleibendes Bewußtsein.
Geistvolle, wahrhafte Anschauung erfaßt die gediegene Substanz des Gegenstandes... Mit Recht
hat man in allen Zweigen des Wissens darauf gedrungen, daß aus der Anschauung der Sache ge-
sprochen werde. Dazu gehört, daß der Mensch mit Geist, mit Herz und Gemüt - kurz in seiner
Ganzheit - sich zur Sache verhält, im Mittelpunkt derselben steht und sie gewähren läßt«. Doch
ist diese Anschauung »nur der Beginn des Erkennens«; sie flößt Verwunderung und Ehrfurcht
ein, indem sie das Denken in Bewegung setzt. Vollendete Erkenntnis besitzt nur, wer in seinem
Denken eine vollkommene, bestimmte, wahrhafte Anschauung gewonnen hat. »Bei ihm bildet
die Anschauung bloß die gediegene Form, in welche seine vollständig entwickelte Erkenntnis
sich wieder zusammendrängt.«72 Dieses Denken »kann man wegen seiner Unmittelbarkeit auch
ein übersinnliches, inneres Anschauen nennen«.73
Bei aller Verschiedenheit im einzelnen ist diesen Philosophen gemeinsam, daß sie un-
ter den Erkenntnisarten mehr kennen als bloße Sinneswahrnehmung und logisches
Denken, ohne daß eine übersinnliche Offenbarung von der Art des Wunders zu Hilfe
genommen würde. Die Erfassung der Idee bei Plato, die Vernunft, die bemerkt, daß es
noch Höheres gibt, als sie begreift, bei Eckhart, die dritte Erkenntnisgattung Spinozas,
die die Dinge sub specie aeternitatis sieht, die Vernunft als Vermögen der in die Unend-
lichkeit Richtunggebenden Ideen Kants, das künstlerische Ideensehen Schopenhauers,
 
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