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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0182
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Psychologie der Weltanschauungen

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schaftliche Experiment, wenn man beide mit der scholastischen Denktechnik einer-
seits, der dialektischen andererseits vergleicht.
III. Die dialektische Denktechnik.
Die Gegensätze, in denen sich alles rationale Denken bewegt, werden in den bisheri-
gen Verfahren nur wirksam in der Ausschließung der einen Seite. Bei Wertgegensät-
zen kennt das scholastische Denken nur das Verfahren des Aristoteles zur Lösung:
das »Mittlere« aus zwei Extremen zu nehmen. Die echte Vereinigung von Gegensät-
zen aber, ihre Lösung ohne Ausschließung ist das Spezifische des dialektischen Den-
kens. Dem Entweder - oder stellt die dialektische Technik ein Sowohl - als auch und
ein Weder - noch gegenüber. Diese Vereinigung wird letzthin durch eine Anschaulich-
keit vollzogen, an der oder in der die Gegensätze aufgehoben sind. Von dieser zentra-
len Anschaulichkeit, in der die Synthese schon vollzogen ist, geht der Dialektiker aus,
um dann in rationaler Form nachher die Abstraktion des Gegensatzpaares in Thesis
und Antithesis und ihre Synthese zur konkreten Ganzheit darzustellen. Die Trichoto-
mie ist hier so spezifisch, wie für das Subordinationsverfahren die Dichotomie.
Beispiele: Das Werden ist weder Sein noch Nichtsein, sondern beides zugleich, sowohl Sein
als auch Nichtsein, die sich zum Konkreten des Werdens zusammenschließen.
Das Leben ist weder eine zusammenhängende Summe von Teilen wie ein Mechanismus, noch
eine Einheit, sondern beides: ein Ganzes, das als Ganzes Bedingung der Teile, dessen Teile ih-
rerseits Bedingung des Ganzen sind. Es ist sowohl Mechanismus als auch Einheit; und es ist we-
der Mechanismus noch Einheit, sondern die unendliche Synthese beider in einem Ganzen.
Die Dialektik kann also nicht auf dieselbe Weise original fassen, wie die früheren
Formen. Sie bringt nur ein weiteres Moment hinzu: Es werden umgrenzt und ins Blick-
feld gerückt die spezifischen Anschaulichkeiten, die zwar unendlich in den Abstraktio-
nen der Gegensätze analysierbar sind (das ist der Weg der faktischen Erkenntnis), die
aber nicht selbst erkannt werden, da sie unendlich bleiben. Werden die früheren ratio-
nalen Wege verabsolutiert, so werden diese Ganzheiten vergessen und nur in den Ab-
straktionen der Gegensätze ge| dacht; das dialektische Verfahren, verabsolutiert, hält 80
sich fälschlicherweise für Erkenntnis, während es doch nur begriffliche Zusammen-
hänge zeigt, nicht die faktische Erkenntnis vermehrt. Das Dialektische gibt weder Be-
weise von Realitäten, noch lehrt es ohne weiteres faktische Zusammenhänge, sondern
es lehrt nur Zusammenhänge der Begriffe. Es wirft über die schon vorhandenen ratio-
nalen Ergebnisse ein spezifisches Netzwerk, in dem die Begriffe zu neuen Beziehungen
verknüpft, aber die Sachen nicht weiter erkannt werden. Sie ist in ihrer echten Form am
nächsten der Anschaulichkeit, während sie ganz auf dem scholastischen und experi-
mentellen Denken beruht, die ihm erst den Stoff geben. Fälschlich wird die Sache selbst
in ihren wirklichen Zusammenhängen und die dialektische Zusammengehörigkeit für
dasselbe gehalten und dadurch eine eigentümliche neue Scholastik erzeugt.
 
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