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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0193
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Psychologie der Weltanschauungen

achtung seiner selbst sind die passiven seelischen Zustände dieser Daseinsweise. Im
Äußerlichen zeigt sich z.B. der Gegensatz im reflexiven Weinen (aus Mitleid mit sich
selbst) gegenüber dem unmittelbaren, lebendigen Weinen.
2. Aktive Selbstreflexion.
In der aktiven Selbstreflexion sieht der Mensch sich nicht nur zu, sondern will sich; er
nimmt sich nicht einfach als gegebene Veranlagung, sondern hat Impulse, die mitwir-
ken am Selbst, das er nie endgültig ist, sondern stets wird. Der Mensch ist sich nicht
nur Material der Betrachtung, sondern er ist Material und Bildner zugleich. Das Sich-
selbsterkennen ist nicht nur die Feststellung eines Seins, sondern ein Prozeß, in wel-
chem die Selbsterkenntnis ein Medium des Selbstwerdens ist und unendliche Aufgabe
bleibt. An der Grenze zur kontemplativen Selbstreflexion steht das bloße Sichhinwen-
den und Jasagen zum Erlebnis als solchem in der genießenden Einstellung. Ihr Gegen-
satz ist das Sichabwenden in der asketischen Einstellung. In beiden kann aber über den
Phänomenen des momentanen Bewußtseins ein ideales Selbst erstrebt werden, das
durch Genuß und Askese erst geformt wird. So sind Genuß und Askese formale Ele-
mente der Selbstgestaltung.
a. Genießende Einstellung.
Genuß ist eine Einstellung nicht auf die Sache (diese sachliche Einstellung wäre lust-
oder unlustvoll, während der Gegensatz zum Genuß die Askese ist), sondern auf das
93 Erlebnis, auch das Erlebnis | der Sache. Aller Genuß ist letzthin Selbstgenuß. Das Be-
wußtsein gibt sich an eine Sache hin, und der Genuß ist bei der Hingabe, nicht bei der
Sache. Es kann daher die Persönlichkeit innerlichst unbeteiligt sein. Es ist »Spiel« für
sie: E/oj ovk e/ogai (Aristipp);107 es berührt sie im Genuß die Sache als solche gar nicht.
Es ist eine relativ passive Einstellung, die weder handelnd, noch urteilend, noch wer-
tend Stellung nimmt, sondern resigniert alles gelten läßt und ihre Aktivität auf den re-
flexiven Genuß beschränkt. So baut sich der Genuß überall als ein Oberbau über der
Unmittelbarkeit auf: über der berauschenden Lust, etwa an der Musik, der Genuß des
Rausches, über der sachlichen Einsicht der Genuß an der sachlichen Einstellung, über
der sinnlichen Lust der Genuß an der sinnlichen Lust, über dem Schmerz der Genuß
am Schmerz. Alles Unmittelbare ist einfach, gleichsam naiv, aller Genuß raffiniert. Die
Unmittelbarkeit bleibt bei der Sache, der Genuß sucht immer weiter nach Genußge-
genständen, die als solche ihn nicht weiter anzugehen brauchen. Der Genuß erwei-
tert die Einstellungen auf die Gesamtheit von Welt und Erleben, und doch braucht er
nichts von ihr zu besitzen. Er ist eben nie bei der Sache, sondern bloß beim Genuß. Al-
les ist Stoff des Genusses, der Genießende nimmt alles, aber schafft nichts; er ist, wenn
diese Einstellung verabsolutiert ist, seinem Wesen nach Amateur. Unterschiede beste-
hen beim Genießer nur in der Weite der genossenen Sphären: Vom Gourmand bis zum
Ästheten. Der Mensch macht sich, seine Anlagen und Organe, sich als gesamten Ap-
 
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