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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0194
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Psychologie der Weltanschauungen

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parat hier zum Mittel des Genusses. Die Wechselwirkung von Persönlichkeit und Ob-
jektivität ist nichts mehr an sich, nicht ernst, sondern Medium oder Basis oder Stoff
für genießende Einstellung. Es gibt keine Entweder-Oder, keine Prinzipien, keine wirk-
liche Vorliebe. Es muß nur immer mehr herbei, immer Neues, Stoff und wieder Stoff.
Was menschenmöglich ist, was Menschen nur erleben können, das wird gesucht.
b. Asketische Einstellung.
Wie die genießende Einstellung, so ist die ihr polar entgegengesetzte asketische eine
Einstellung auf sich selbst. Wendet der Genuß sich dem Erlebnis zu, so wendet die As-
kese sich ab. Sucht der Genießer Erlebnisse, Situationen, sachliche Eindrücke und Tä-
tigkeiten herbeizuführen, um sie zu genießen, so sucht der Asket durch Vermeidung
aller Erlebnisse die Eindrücke zu verringern, um die Abwendung zu erleichtern. So ent-
steht als einfachste Askese die äußere des sich Versagens: Man verzichtet auf Ehe, bür-
gerliche Stellung, Erfolg, auf den Genuß von Fleisch und Wein usw. Aber das | Leben
bringt faktisch doch immer Erlebnisse und Tätigkeiten mit sich. Ihnen gegenüber ent-
wickelt sich die innere Askese: beim notwendigen Erleben und Tun doch nicht zu ge-
nießen, nicht einmal Lust zu empfinden. Der Genießer und der Asket sagen beide, daß
sie nicht von den Dingen beherrscht, sondern selbst Herr sind, aber sie sagen es mit
umgekehrtem Akzent; der Genießer ist aller Dinge ledig, weil er nicht sie selbst, son-
dern bloß die genießende Einstellung, die immer ihr Objekt irgendwie finden mag,
meint; der Asket ist Herr der Dinge, weil er imstande ist, sie ohne Lust und ohne Ge-
nuß geschehen zu lassen. Er verbietet sich die Freude, beteiligt sich aber aus rationa-
len Motiven an den Notwendigkeiten des Daseins ohne andere innere Beteiligung als
die des Gleichgültigseins. Er arbeitet, aber den Erfolg genießt er nicht, er pflanzt sich
vielleicht fort, aber übt den Sexualakt nur zu diesem Zweck aus und grundsätzlich
ohne sich Lust zu erlauben.
Jedoch sowohl Versagen wie inneres Unbeteiligtsein gelingt nicht, und der Mensch
muß es bemerken, wenn die Selbstprüfung gewissenhaft zusieht. Das Versagen führt
zu inneren Phantasieerlebnissen, bei lebendigen Akten wird doch Lust empfunden.
Das bloße Neinsagen im Abwenden entwickelt sich darum zum positiven Zufügen von
Schmerz. In dieser aktiven Askese soll durch übersteigernde Kompensation und künst-
lich erregte Unlust alle Lust verjagt und das Ablehnen erleichtert werden. Fasten, Wa-
chen, hart Liegen, Selbstentmannung, Selbstgeißelungen usw. entstehen. Diese aktive
körperliche Askese hat eine erstaunliche Verbreitung in den verschiedensten Kultu-
ren. Aus so vielfältigen Quellen, z.B. magischen Lehren, sie entspringen mag, so sehr
manchmal bei ihrem Zustandekommen hysterische Analgesien108 mitwirken mögen,
es steckt darin auch ein weltanschaulicher Impuls. Davon kann man sich etwa folgen-
des Bild machen:
Unter geordneten und stabilen Verhältnissen lebt der Mensch unproblematisch,
vielfach zufrieden und vielfach unlustig, aber unerschüttert dahin, im Banne seiner

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