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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0195
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Psychologie der Weltanschauungen

endlichen Aufgaben. Erlebt er aber überall das Problematische, den Verlust, die Zerstö-
rung, die tägliche Gefahr, erlebt er das passiv, nicht aktiv, erlebt er Leiden über Leiden,
Schmerzen über Schmerzen und steigern sich seine Demütigungen, so macht er wohl
den Sprung zurück hinter alle sinnlichen Glücksbedürfnisse und alle weltlichen
Zwecke. Er verabscheut alles Glücksverlangen, weil es immer Leiden bringt, alle welt-
lichen Aufgaben, weil sie ihn zerstreuen, seiner inneren Einheit und der Herrschaft
über sich berauben. Und in einem gewaltigen Umschlag der Triebrichtung kümmert
95 er sich nicht mehr um die Dinge der | Welt, sondern wirft alles fort und will alles
Wünschbare verneinen. Nichts aber ist heftiger, unausweichlicher als der körperliche
Schmerz, nichts zugleich gröber, primitiver und jedermann faßlich. Indem an dieser
Stelle das Neinsagen in aktiver Kasteiung aufs höchste gesteigert wird, gewinnt hinter
all den sozialen, sinnlichen, weltlichen Glücksichs ein anderes Ich eine Macht und Si-
cherheit wie nie sonst. Das Reale und das Endgültige der Selbstverstümmelung, das
unbedingt und wirklich Weltablehnung ist, gibt in der stärksten Aktivität ein Sinner-
leben in der Herrschaft über sich und die Dinge, nachdem vorher alles leidvoll, hoff-
nungslos und sinnlos war. Es entsteht eine Verzückung in der Macht über das empiri-
sche Dasein. Was sonst als Schicksal und Leid kam und getragen werden mußte,
kommt jetzt als Resultat des eigenen Willens. Was anderen notwendig und von außen
kommt, das wird jetzt freier Wille des Asketen selbst. Es ist wohl nicht zufällig und etwa
bloß Folge einer rationalen Lehre, daß der indische Asket nach seiner Askese die unge-
heuersten Machtgefühle hat, und daß dort die Lehre entsteht, der Asket überwinde so-
gar alle Götter, er bändige durch Askese die Welt und werde der vollkommene Herr von
allem.
Die aktive Askese in der Zufügung von Schmerz läßt bald den Menschen die merk-
würdige Erfahrung machen, daß Schmerz lustvoll und Gegenstand des Genießens sein
kann. Es gibt ein wollüstig-grausames Genießen in eigenem so gut wie in fremdem
Schmerz. Wir dürfen in der aktiven Körperaskese manchmal eine sinnliche Lustbeto-
nung des Schmerzes vermuten, sei es, daß diese Lust direkt gesucht wird, sei es, daß
z.B. in der Ausrottung des heftigen Geschlechtstriebs durch Geißelungen sich die Lust
plötzlich verschiebt und an Stelle der auszurottenden Geschlechtslust eine Schmerz-
wollust tritt. Wenn jemand eine solche Technik beginnt, ahnt er vielleicht nichts von
den Zusammenhängen, sondern hat weltanschauliche, disziplinäre Motive, aber bei
der Übung kommt die neue Erfahrung, die die Technik, die sonst kaum durchgeführt
wäre, nun vielleicht erst recht steigert.
Diese wenigen Andeutungen zeigen die nahe Beziehung zwischen genießender
und asketischer Einstellung. In Reinheit und ohne Verabsolutierung sind genießende
und asketische Einstellung bloße Mittel in den Händen der Selbstgestaltung, die aus
mannigfachen Ideen wirkt. Wo aber eine von beiden zur Verabsolutierung neigt, da
zugleich auch die andere. Beide sind zwar Gegensätze, aber wie alle Gegensätze an-
einander gebunden. Wollüstiges Genießen und zerfleischende Askese sind ebenso
 
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