Metadaten

Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0196
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Psychologie der Weltanschauungen

103

verknüpft, wie auf höherem Niveau epikureische Weltfreude und stoische Resigna-
tion.

| c. Selbstgestaltung. 96
Sieht der Mensch nicht nur seinen augenblicklichen Zustand, sondern sich als Ganzes
in Vergangenheit und Zukunft an, so ordnen sich alle momentanen Eingriffe in das ei-
gene Dasein zusammen zu einer Gestaltung der eigenen Persönlichkeit unter irgend-
welchen Leitbildern. Mit dem Bewußtsein ihrer Ganzheit als eines zu gestaltenden We-
sens, mit der Reflexion auf sich als auf die Gesamtheit alles dessen, was zwischen Geburt
und Tod liegt, leben nicht viele Menschen und wohl niemand dauernd. Wenn aber
diese Reflexion besteht, so führt die Gestaltung des eigenen Wesens, mit den Mitteln
der Bejahung und Verneinung, der Förderung und Hemmung, des Genießens und der
Askese, zu einer Reihe von Persönlichkeitstypen, die nun zu betrachten sind.
Die Selbstgestaltung ist jeweils eine Wirkung in der konkreten Gegenwart und hat
zur materialen Voraussetzung die äußere Situation und das, was bis dahin die Persön-
lichkeit ist und geworden ist. Die Selbstgestaltung ist nicht ein Wollen, das sagt: Nun
will ich dieser Menschentypus sein, sondern sie ist der Prozeß, der sich des Wollens an
unendlich vielen einzelnen Punkten, an denen er angreifen kann, bedient, mit der Ein-
stellung auf ein Ganzes hin. Die Bestimmung der einzelnen Willensakte, durch die ich
mir versage und erlaube, eine Aufgabe erfülle oder ablehne, eine Handlungsmöglich-
keit ergreife oder daran vorbeigehe, lebensentscheidende Entschlüsse positiv oder ne-
gativ fasse, geschieht in dem Prozesse der Selbstgestaltung von Leitbildern, von typi-
schen Anschauungen eines idealen Selbst her. Aber diese Bestimmung kann ihrer Art
nach sich auf einer langen Skala bewegen zwischen zwei Endpunkten: Das Leitbild selbst
ist in Entwicklung, es steht in engster Beziehung zur gegenwärtigen persönlichen Reali-
tät, es bestimmt, selbst aus der Wurzel gewachsen, das, was jetzt aus der Wurzel ent-
springen kann; oder: Der Mensch mit bloßer Intelligenz und Wertung übernimmt ein
Ideal, das ihm das absolute scheint und will mit einem Sprung nach diesem Ideal leben.
Im Alltag aber vermag er nur aus der Theorie heraus in einzelnen übersteigerten, sei-
ner daseienden Natur fremden Handlungen jenem Ideal inhaltlich zu entsprechen,
wobei oft eine blinde Sicherheit und oft eine bodenlose Unsicherheit über das, was
richtig ist, ihn bewegt. Zwischen Leitbild und faktischem Dasein ist eine solche Span-
nung, daß statt der Selbstgestaltung ein Chaos und ein Zurückfallen auf ganz tiefe Stu-
fen persönlicher Möglichkeiten eintritt. Die Selbstgestaltung ist im einen Fall ein theo-
retisch vielleicht unreflektierter Prozeß, in dem der Mensch von sich selbst intellektuell
kaum etwas zu sagen wüßte und im anderen Fall | die ohnmächtige Reflektiertheit ohne 97
tatsächlichen Prozeß der Selbstgestaltung; im einen Falle ein lebendiges, echtes Sein, in
dem Leitbild und Wesen immer so verwachsen sind, daß sie weitgehend zusammenfal-
len, im anderen Falle ein unechtes Umhängen einer Persönlichkeit, die man nicht ist,
weil Wesen und Leitbild durch einen weiten Abgrund getrennt sind, weil bloß gewollt,
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften