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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0202
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Psychologie der Weltanschauungen

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Mangel ist, kann an diesen Persönlichkeiten den anderen als Positives imponieren. Und
der Literatentypus redet vom Heiligen, vom Übersinnlichen, von der Liebe. - Für diese
Dinge kann man nur als Prophet und Apostel in Existenz wirken, oder über sie als Psy-
chologe theoretisch sprechen. Dazwischen gibt es nichts als Unechtes, Zweideutiges.
Wie dem Idealtypus des Heiligen eine Reihe von Typen bloßer partieller Teilnahme
an ihm - womit er in seinem Wesen vernichtet ist - in der Konstruktion folgen, wie
schließlich der Literat sich dieses Typus als eines Kostüms und als eines Reiz- und Er-
bauungsmittels bedienen kann, so gliedern sich dem Idealtypus der plastischen Natur
eine Reihe teilweiser Gestaltungen an, die jenem Idealtypus nicht entsprechen, aber eine
Seite desselben zu karikierter Wirklichkeit bringen. Diese Gestalten stellen statt jener
Verschmelzung von Persönlichkeit und Allgemeinem entweder die individuelle Per-
sönlichkeit als solche oder unter dem Festhalten von etwas absolut Allgemeinem die
bloße allgemeine punktuelle Persönlichkeit in die Mitte ihrer Formung. Jener Typus
heißt Epikureer, dieser heißt Stoiker. Beiden gemeinsam ist, daß ihrem Streben ein ob-
jektiver Zweck, eine Sache, eine objektive Aufgabe entgleitet. Ihr strebendes Bemühen
hat keinen sachlichen sondern den persönlichen Gipfel. Beide sind zu schildern:
a) Die Selbstgestaltung zum Kulturepikureer')'2' sucht die genießende Einstellung zur
wesentlichen zu erheben, und alles zu tun, um nach den Gesetzen unserer Veranla-
gung und nach der Eigengesetzlichkeit der Inhalte diese Einstellung möglichst unge-
stört und reich zu entfalten.
Dazu gehört zugleich eine Verabsolutierung der ästhetischen Einstellung als der iso-
lierenden. Es wird alles isoliert genossen: der unmittelbare erlebte Augenblick als sol-
cher, der einzelne Mensch, der Zufall, ein willkürliches Tun. Das Leben wird impres-
sionistisch, dagegen jede Konsequenz und jede Verantwortung, jede Ganzheit | und
Kontinuität abgelehnt. »Wir leben aphoristisch, wir leben ärpmpurpsvoi und segregati,
wir leben als lebendige Aphorismen, losgelöst von dem Verein der Menschen«“).122
»Willkürlich sein, dasist’s ... Wenn man sich nicht auf Willkür versteht, genießt man
nicht mehr unmittelbar ... Man genießt etwas rein Zufälliges, betrachtet das ganze
Dasein als zufällig und läßt seine Realität daran scheitern ... Man erhebe etwas ganz
Zufälliges zum Absoluten ,..«iii)123 In der Betrachtung wird eine unbegrenzte Reflexion
entwickelt, eine reiche Dialektik, aber ad hoc, unverbindlich, nicht zur Totalität stre-
bend.
Solche Selbstgestaltung erfordert eine Disziplinierung des Genießens. Dieses wird sich
nicht selbst überlassen, vielmehr unter Hilfe psychologischer Erwägungen so geordnet,
gefördert und gehemmt, daß es bestehen bleiben kann. Eine Technik der Lebensfüh-

In der Geschichte der philosophischen Lehren ist diese Einstellung vertreten durch Aristipp, Epikur,
und besonders durch Kierkegaards »ästhetisches Stadium«.
Kierkegaard 1,200.
Kierkegaard 1,267.

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