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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0206
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Psychologie der Weltanschauungen 113
bung, als dieses bestimmten Produkts eines bestimmten Milieus. Wer seiner selbst so
bewußt wird, übernimmt das alles zusammen unter seiner Verantwortung. Er zögert
nicht, ob er das Einzelne mitnehmen soll oder nicht; denn er weiß, daß etwas weit Hö-
heres verloren geht, wenn er es nicht tut. Er ist also im Augenblick der Wahl in voll-
kommener Isolation, denn er zieht sich aus seiner Umgebung heraus; und doch ist er
im selben Moment in absoluter Kontinuität, denn er wählt sich selbst als Produkt; und
diese Wahl ist eine freie Wahl, so daß man von ihm, indem er sich selbst als Produkt
wählt, ebensogut sagen kann, er produziere sich selbst«').124
Die Selbstgestaltung, die darauf beruht, daß der Mensch sich selbst wählt, ist eine
ganz konkrete: Im lebendigen Akt der Wahl des Ja und Nein entscheidet sie endgültig;
als allgemeine aber entzieht sie sich der Formulierung, läßt sich nicht in Rezepten
übertragen. Sie ignoriert nirgends das Allgemeine, aber bettet es ein in die übergrei-
fende Lebendigkeit eines Selbst. Darum ist sie angewiesen auf die Tiefe und die Sicher-
heit der lebendigen Impulse, deren Folgen zu übernehmen, deren Verantwortung zu
tragen das Selbst bereit ist. Da der Mensch aber immerfort von diesen Quellen sich ent-
fernt, von der Höhe des Ganzen im lebendigen Existieren zum Alltag herabfällt, so be-
darf er der Hilfe. Diese bietet einerseits die unendliche Entwicklung der Selbstreflexion
in der Selbstprüfung und im Sichdurchsichtigwerdenwollen; andererseits die Ethik der
formulierten Grundsätze und Imperative, die über die Schwäche und Mattheit, in der
der Mensch als ein Ganzes versagen würde und zerrönne, gleichsam als Defensivap-
parat und Stütze hinweghilft.
3. Reflexive und unmittelbare Einstellung: der Augenblick.
Je rationaler die Selbstgestaltung des Menschen vor sich geht, desto mehr wächst die
Neigung, jedes augenblickliche Erleben, jede zeitlich bestimmte Realität zum Mittel
für etwas anderes, für ein Zukünftiges oder für ein Ganzes, zu machen. Wir leben re-
flektiert oft mehr in der Vergangenheit oder in der Zukunft; die Gegenwart suchen wir
zu meiden. Gegen reflexive Einstellungen entstehen so oppositionell gefärbte Einstel-
lungen auf die Realität des Augenblicks (die konkrete Gegenwart, auf den Selbstwert
jeden Moments, auf das unmittelbar Wirkliche). Aus dem Bewußtsein eines Ganzen,
worauf | es ankomme, entspringt die Problematik des Zeitverlaufs, in den das Leben
der Seele eingeklemmt ist. Weil die Seele immer nur in der Zeit existiert, ist sie auch
immer nur fragmentarisch und endlich. Es scheint aber, als ob sie im Bewußtsein und
Erlebnis der Unendlichkeit des Augenblicks über die Zeit hinauswachsen könne. Je-
denfalls wird der Selbstreflexion in dem Gegensatz von tatsächlicher zeitlicher Exi-
stenz und Intention auf Ewigkeit und Zeitlosigkeit gerade das zeitliche Leben, das im-
mer als gegenwärtiger Augenblick allein real da ist, problematisch. Um die
Einstellungen von dieser Seite psychologisch sehen zu können, bedarf es vorher einer

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Kierkegaard W. W. II, 215.
 
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