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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0207
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ii4

Psychologie der Weltanschauungen

Vergegenwärtigung möglicher Zeitbegriffe. Wie diese Zeitbegriffe realisiert, erlebt wer-
den, ist ein Charakteristikum weltanschaulicher Stellungen.
Exkurs. Das Nachdenken über die Zeitbegriffe:
a) Historisches:
Plato1)125 ist das wunderlich paradoxe Wesen des Augenblicks klar gewesen: Der Übergang von
einem zum vielen, von der Bewegung zur Ruhe und umgekehrt ist eigentlich unvorstellbar. Die-
ser Übergang müßte eine Zeit sein, in der etwas weder sich bewegt noch ruht. Diese Zeit aber
kann es wohl doch nicht geben? Der Übergang ist der Augenblick. »Denn das Augenblickliche
scheint dergleichen etwas anzudeuten, daß von ihm aus etwas übergeht in eins von beiden.
Denn aus der Ruhe geht nichts noch während des Ruhens über, noch aus der Bewegung des Be-
wegtseins; sondern dieses wunderbare Wesen, der Augenblick, liegt zwischen der Bewegung und
der Ruhe als außer aller Zeit seiend, und ihm geht das Bewegte über zur Ruhe, und das Ruhende
zur Bewegung... Geht es aber über: so geht es im Augenblick über, so daß indem es übergeht es
in gar keiner Zeit ist, und alsdann weder sich bewegt noch ruht.« Plato erfaßt den Augenblick
also als zeitlos. Der Augenblick ist nicht das Zeitatom, sondern das Ganze der Gegensätze.
Dieser Gedanke, der den Augenblick als ein Paradoxon denkt, kehrt wieder bei Aristoteles
und durch ihn bei Giordano Bruno. Bruno“)126 nennt den Augenblick, »die ewige Gegenwart
derzeit«. Er behauptet mit Aristoteles, »daß die Ewigkeit ein Augenblick und alle Zeit nichts
anderes ist, als eine Gegenwart«. Im Augenblick ist uns die ganze Zeit oder Ewigkeit gegeben.
»Die Zeit ist in Wahrheit und Wesenheit nichts anderes als stete Gegenwart, ewiger Augenblick.«
Kierkegaard1“)12? sieht im Augenblick wiederum die Synthese des Zeitlichen und Ewigen. Er stellt
den Augenblick als etwas dar, das erst mit dem Christentum seinen Sinn bekommen hat. Von
Platos Paradoxon sagt er: »Der Augenblick bleibt doch eine lautlose atomistische Abstraktion«.
Der Augenblick, durch Plato zur Kategorie des Übergangs überhaupt geworden, ist als solcher
von Hegel in der Logik zum beherrschenden Prinzip gemacht. Aber »Übergang« hat im Logi-
no sehen kein Recht. Das | Wort »Übergang« »hat seine Heimat in der Sphäre der historischen Freiheit,
denn der Übergang ist ein Zustand und ist wirklich«. Der Augenblick ist ein Existierendes und
nicht als »Übergang« eine Beziehung in der Welt der Begriffe. Alle historischen Sphären, d.h.
das Existierende, und alles Wissen, das sich innerhalb einer historischen Voraussetzung bewegt
(wie z.B. die christliche Dogmatik), haben den Augenblick. »Diese Kategorie ist für die Abgren-
zung gegen die heidnische Philosophie und gegen eine ebenso heidnische Spekulation im Chri-
stentum selbst von größter Wichtigkeit.« In der Sphäre der historischen Freiheit ist der Über-
gang ein Zustand, in dem das Neue mit einem Sprung eintritt.
Stellt man sich die Zeit als endlose Sukzession vor, so ist diese für die Vorstellung nur eine un-
endlich inhaltlose Gegenwart. Kein Moment ist wirklich gegenwärtig - es fehlt der Fußpunkt ei-
ner Einteilung, ein Gegenwärtiges in der endlosen Sukzession -, und insofern gibt es in dieser Zeit
weder Gegenwart, noch Vergangenheit, noch Zukunft. Dieser Vorstellung entgegen sagt Kierke-
gaard: Das Gegenwärtige ist gar nicht der Begriff der Zeit, außer sofern er - wie eben - als unendlich
Inhaltloses und als unendliches Dahinschwinden gedacht wird. Vielmehr ist das Ewige das Gegen-
wärtige. Für die Vorstellung ist das Ewige das unendlich inhaltvolle Gegenwärtige. »In dem Ewi-

Plato, Parmenides 156 (nach Schleiermachers Übersetzung).
Bruno, eroici furori (Übersetzung Kuhlenbecks).
V, 78-90.
 
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