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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0208
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Psychologie der Weltanschauungen

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gen ist die Unterscheidung des Vergangenen und Zukünftigen wieder nicht zu finden.« So besteht
also ein Gegensatz der Begriffe: Einerseits die Zeit als die endlose Sukzession; »Das Leben, das in
der Zeit ist und allein der Zeit angehört, hat kein Gegenwärtiges.« Andererseits: »Das Gegenwärtige
ist das Ewige; oder besser: das Ewige ist das Gegenwärtige, und dieses ist das Inhaltvolle.« Das Wort
»Augenblick« kann also selbst entgegengesetzte Bedeutung annehmen: Als das Momentane, das
keine Vergangenheit und Zukunft hat, bezeichnet es die Unvollkommenheit des sinnlichen Le-
bens. Als das Gegenwärtige, das kein Vergangenes und kein Zukünftiges hat, bezeichnet es die
Vollkommenheit des Ewigen. Die abstrakte Ausschließung des Vergangenen und Zukünftigen
führt zu dem bloßen Moment, dem Nichtigen der endlosen Zeitlichkeit des Sinnlichen. »Soll da-
gegen die Zeit und die Ewigkeit sich berühren, so kann dies nur in der Zeit geschehen - und nun
stehen wir vor dem Augenblick.« »So verstanden ist der Augenblick nicht eigentlich ein Atom der
Zeit, sondern ein Atom der Ewigkeit. Er ist der erste Reflex der Ewigkeit in der Zeit.«
Der Augenblick ist ein Atom der Ewigkeit, aber nicht selbst die Ewigkeit. »Der Augenblick ist
jenes Zweideutige, in dem Zeit und Ewigkeit einander berühren, und hiermit ist der Begriff der
Zeitlichkeit gesetzt, in der die Zeit beständig die Ewigkeit abreißt und die Ewigkeit beständig die
Zeit durchdringt.« Hier enthält einen erfüllten Sinn, was im Gegensatz zur endlosen leeren Suk-
zession der Zeit als Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft unterschieden wird. Wie der »Au-
genblick« bestimmt wird, entscheidet für die Auffassung des Ewigen, des Vergangenen, des Zu-
künftigen. Kierkegaard sieht drei Typen:
1. Der Augenblick ist nicht; das Ewige kommt rücklings, als das Vergangene, zum Vorschein,
wie in der platonischen Anamnesis an die früher geschauten Ideen. »Wenn ich einen Menschen
gehen heiße, ohne ihm Richtung und Ziel für sein Gehen anzugeben, so kommt ja auch sein
Weg hinter ihm zum Vorschein, als das Zurückgelegte.«
| 2. Ist der Augenblick gesetzt, aber bloß als Diskrimen,128 so ist das Zukünftige das Ewige. Das in
ist nach Kierkegaard die jüdische Anschauung. Das Zukünftige ist das Inkognito, in dem das
Ewige, das ja für die Zeit inkommensurabel ist, doch seine Beziehungen zu der Zeit unterhalten
will.
3. Ist der Augenblick gesetzt, so ist das Ewige, und dieses ist dann zugleich das Zukünftige,
welches als das Vergangene wiederkommt. Das ist christlich gedacht. »Der Begriff, um den sich
im Christentum alles dreht, das, was alles neu machte, ist die Fülle der Zeit; sie ist aber der Au-
genblick als das Ewige, und doch ist dieses Ewige zugleich das Zukünftige und das Vergangene«.
b) Die referierten Gedanken bewegen sich in mehreren heterogenen Richtungen, deren Tren-
nung unter Hinzuziehung weiterer Möglichkeiten folgende Zusammenstellung ergibt:
1. Es wird die Zeit als eine leere Strecke rein quantitativ und objektiv gedacht. Vergangenheit
und Zukunft sind durch die Gegenwart, die eine bloße Grenze, ein Punkt ist, getrennt. Diese
objektive Zeit wird objektiv gemessen, wobei als Fußpunkt ein beliebiger, willkürlich gewählter
Moment dient. Diese Zeit ist leere Form, bloß quantitativ, sie ist die Zeit des Physikers und nur
als ein Element in der Zeitvorstellung unseres Lebens.
2. Das faktische Zeiterleben wird psychologisch, aber formal und auf seine Quantitätsverhält-
nisse hin, experimentell untersucht, indem an das unmittelbare Zeitbewußtsein in seinen man-
nigfachen Gestalten der Maßstab der objektiven Zeit gelegt wird. Es ergibt sich das Selbstver-
ständliche, daß der objektive Zeitmoment psychologisch gar nicht existiert, vielmehr das
Erlebnis des Zeitmoments selbst ein Geschehen ist, das, objektiv betrachtet, Zeitdauer hat.
3. Erkenntnistheoretisch wird durch Kant die Zeit als eine subjektive Anschauungsform erfaßt,
in der wir unvermeidlich alles Gegenständliche sehen: die Zeit hat zwar empirische Realität,
 
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