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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0211
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u8

Psychologie der Weltanschauungen

ßen hinaus hat der Augenblick nur imaginären Sinn, der ebenso betrügt wie das zum
Mittel Machen für die Zukunft. Carpe diem.133 Hiergegen stehen als positive Kräfte, die
mit jenem Betrügen zugunsten eines Zukünftigen gar keine Verwandtschaft haben,
Einstellungen, welche Nietzsche meint: »Die Nichtachtung des Gegenwärtigen und
114 Augenblicklichen liegt im Wesen der großen philosophischen Natur.«134 Es | kommt
darauf an, in dieser vollen Realität, die ganz ergriffen wird, den Weg zum Unendlichen,
Ideellen, Substantiellen zu finden, über die ganz in Besitz genommene Realität erleb-
nismäßig hinauszugehen, ohne sie zu verlieren. Die bloße sinnlich-reale Gegenwart
vermag dieser Einstellung nicht Fülle und Befriedigung zu geben. Während die epiku-
reische und rational-reflexive Einstellung bei der Gegenwart dabei und doch nicht da-
bei sind, weil sie an eine getrennte Zukunft oder an das Nichtige des Ganzen denken,
sieht diese Einstellung in vollem Dabeisein durch die Realität hindurch. Wer nicht
ganz in der Realität lebt und sie ergreift, vermag nicht zum Unendlichen als erfülltem
Erlebnis zu kommen, aber alle augenblickliche Realität, alle zeitlich bestimmte Reali-
tät ist ein Stoff (nicht ein Mittel) für die Immanenzwerdung des Unendlichen (erleb-
nismäßig verstanden). Diese Einstellung auf das Unendliche bedarf aber einer gewis-
seren Veranschaulichung. Wir nennen sie die enthusiastische Einstellung, und
charakterisieren sie im nächsten Abschnitt.
Der geschilderte Gegensatz ist treffend in Kierkegaards Formulierungen gezeigt.
Der Epikureer sagt etwa: »Wenn man nur mitkommen, nur einmal eine Tour im Wir-
bel des Augenblicks mittanzen kann, so hat man gelebt, so wird man von den ande-
ren Unglücklichen beneidet, die kopfüber im Leben Vorwärtsstürzen ... so hat man ge-
lebt, denn was ist ein Menschenleben mehr wert, als eines jungen Mädchens kurze
Lieblichkeit«').135 Ihm wird geantwortet: »Da predigt man den Augenblick ... so wird
die Ewigkeit am besten durch lauter Augenblicke beiseite geschafft... die Angst vor der
Ewigkeit macht den Augenblick zur Abstraktion«“).136 Der Epikureer kann den Augen-
blick nur als einmaligen und losgelösten genießen, der auf das Ewige Gerichtete kann
den Augenblick als Wiederholung und in Dauer erfahren'“).137 -
Der Augenblick ist das Medium für alle Lebendigkeit und darum unendlich man-
nigfaltig an Gestalten, von den ärmsten bis zu den reichsten, von den einfachsten bis
zu den verwickeltsten. Alles, was wahrhaft lebendig in uns wird, geht in Augenblicke
ein, stammt irgendwie aus Augenblicken. Für den Beobachter gibt es den unmittelba-
ren, unreflektierten Augenblick, der den Gegensatz von Zeitmoment und Augenblick,
von Unmittelbarkeit und Reflexion noch nicht kennt. Hier gibt es keine Problematik
des Augenblicks und noch keine Erkrankung der Fähigkeit, augenblicklich sein zu kön-
115 nen. Die Reflexion hebt erst die Unmittelbarkeit solchen | Augenblicks auf, der es noch

Kierkegaard, W. W. V, 102.
Kierkegaard, W. W. V, 151
Kierkegaard II, 108,116 usw.
 
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