Metadaten

Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0217
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
124

Psychologie der Weltanschauungen

Alle diese Arten der Selbstaufopferung stehen in der Form des Enthusiasmus. So
verschieden sie sind, die enthusiastische Einstellung ist daran das Gemeinsame.
Auch die enthusiastische Einstellung als Liebe erlebt die Selbsthingabe als eine
Selbstvernichtung. Prägnant drücken es die von Hegel nach Rückerts Übersetzung
zitierten Verse des Dschelaleddin Rumi aus:
Es schauert Leben vor dem Tod.
So schauert vor der Lieb ein Herz,
Als ob es sei vom Tod bedroht.
Denn wo die Lieb erwachet, stirbt
Das Ich, der dunkele Despot.143
Fragen wir, wohin denn diese Selbstaufopferung im Enthusiasmus gehe, so ist nur zu
wiederholen, daß die Wege unvereinbar verschieden scheinen in der plastischen
Selbstgestaltung und im Heiligentypus. Beide opfern jede Gestalt des Ich, der eine im
Prozeß auf ein nie nennbares, nie formulierbares Selbst der diesseitigen, konkreten
Wirklichkeit hin; der andere zu etwas nur Allgemeinem und zu Arten des Selbst in hö-
heren, unserer Welt fremden Bewußtseinszuständen. Dabei wird jedes Selbst wieder
im höheren Zustand vernichtet; ob schließlich etwas, und was schließlich da ist, ist
dunkel und jedenfalls nicht in dieser Welt der Wirklichkeit. Beide sind trotz fortwäh-
render Negation keine Nihilisten, insofern sie von positiven Erlebnissen ausgehen und
in der Selbstvernichtung etwas erstreben, das - in welcher Sphäre immer - Bestand hat;
während der Nihilist nur das Nichts will, das nicht mehr Sein. Charakteristisch hält
Buddha, dem das Gegenüberstehen gegenüber dem Nichts nur eine zu überwindende
Stufe auf dem Wege zum Nirvana ist, diesen Drang zum Nichts, zum Nichtsein, für
bloße Begierde zum Leben mit umgekehrtem Vorzeichen und für etwas ihm ganz Frem-
des. Der reine Nihilismus ist nicht enthusiastisch, sondern verzweifelt.
Das Paradoxe der enthusiastischen Hingabe ist, daß in dieser Hingabe der Mensch
zugleich ein Selbst jeweils erst wird:
Und so lang du das nicht hast,
Dieses: stirb und werde,
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.144
3. Der Gegenstand ist dem Enthusiasmus auf spezifische Weise gegeben. Die
enthusiastische Einstellung ist in Bewegung auf etwas hin, das heißt nicht, daß sie ak-
tive Einstellung ist, sie kann vielmehr in der aktiven so gut wie in der kontemplativen
122 und der reflexiven | Einstellung sich auswirken. Nennen wir jede Bewegung in der Seele
ein Streben, so ist die enthusiastische Einstellung ein Streben. Doch kann dieses Stre-
ben so vollkommen innerlich sein, daß der gewöhnliche Wortsinn nicht mehr paßt:
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften