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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0223
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ißo

Psychologie der Weltanschauungen

egoistische Einstellung will von der Liebe Anerkennung des eigenen Seins, so wie es
ist, Förderung der empirischen Bedürfnisse, Merkmale der Liebe des anderen sind ihr:
Aufopferung für sie, Wertbejahung überall, rechtfertigen, entschuldigen, was man
auch tue, solidarisch sein in jedem usw.
Umgekehrt gibt sich vermeintliche Liebe, die aber bloß Machtinstinkt im psycho-
logischen Verstehen ist, als Liebe aus, indem sie jede Aufopferung, jedes Helfen, jede
Mitwirkung im Realempirischen ablehnt mit den eben dargelegten Argumentationen;
obgleich es doch selbstverständlich ist, daß wirkliche Liebe ihre Auswirkung auch im
Empirischen hat; man wird die grobe negative Probe der Liebe daran immer machen
können, ob im Realen (Helfen) das Selbstverständliche geschieht. Die Liebe manife-
stiert sich nur im Realen.
2. Mitleid ist nicht Liebe, wenn auch Mitleid ebenso wie psychologisches Verstehen
eine Manifestation des liebenden Verstehens ist. Mitleid ist am Leiden des anderen
selbst leidend, einerlei, welches Leid es ist. Das Mitleid hat nirgends Beziehung zum
Absoluten, sondern ist bloß leidverneinend, es ist gar nicht auf das Individuum als In-
dividuum gerichtet, sondern allgemein. Es ist darum entwürdigend für den, der da-
von getroffen wird, wird darum abgelehnt, wenn nicht in einer entwürdigten Einstel-
lung das Erregen von Mitleid beim anderen einem Elenden noch Erregung seiner
letzten Machtinstinkte verschafft (daß er nämlich, wenn er auch absolut ohnmächtig
ist, doch durch Erregung dieser Mitleidsgefühle noch wirkungsfähig ist; daß er doch
so noch sich zum Mittelpunkt einer Beachtung machen kann). Mitleid erregt ferner
beim Mitleidenden das Gefühl der Überlegenheit, weil es ihm besser geht, weil er im
Helfen seine Macht fühlt. Es ist der äußerste Gegensatz von Liebe, in Mitleid, allgemei-
ner Menschenliebe, blindem Helfen, wo überhaupt Leid ist, sich auszuschütten. Nie-
mals meint man dabei ein Individuum, niemals ein Absolutes, immer sich selbst. Man
bleibt in der Einstellung, der der Wertgegensatz Leid und Lust der absolute ist. Man
liebt nicht, wenn und weil man mitleidig ist.
3. Das Verstehen des anderen steht in Beziehung zu Verhaltungsweisen, die nicht Liebe sind,
wenn sie auch oft sich so geben: z.B. das Erziehen, das Bessernwollen des anderen. Als Er-
ziehender übersehe ich Situation und Seele des anderen, bin ich der Überlegene, habe
ich Macht, stehe ich nicht gleich auf gleich, bin ich nicht absolut offen auf Gegenseitig-
keit, habe Pläne, die ich dem, auf den sie sich richten, so nicht sage. Das Erzieherverhält-
129 nis | ist ein im menschlichen Dasein (durch Alter- und Bildungsunterschiede und Qua-
litätsunterschiede der Menschen) unvermeidliches Verhältnis, in dem sich eine Art der
Liebe auswirken kann, das aber selbst ohne Liebe Erfolg erzielt, soweit überhaupt Tätig-
keiten ohne Liebe etwas - nämlich mechanisches, armes, unlebendiges - leisten kön-
nen. Das liebende Verstehen hat als ein Element das Hinaufsteigern des Werts auf bei-
den Seiten, aber das Mittel ist nicht die Erziehung, deren Anwendung die Liebe sofort
stört, sondern das kämpfende Infragestellen, die rücksichtslose Offenheit, das unüber-
legene Sehen. Wer sich erzogen fühlt, fühlt sich um die eigentliche Liebe betrogen.
 
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