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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0225
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Psychologie der Weltanschauungen

Sehen wir ebenso isoliert wie die Erotik nun die Liebe an, so ist die Liebe an sich
universal, an kein Individuum ausschließlich gebunden. Das Merkwürdige ist, daß die
Liebe an Stelle von Eifersucht, Machtbegier, Ethik und bürgerlicher Institution die
Quelle des Ausschließenden der Erotik im Zeitverlauf werden kann. Wie die Liebe sich
aller seelischen Materialien bemächtigen kann, so hier der Erotik und Sexualität. Die
Liebe kann mehrere Individuen treffen, aber die Liebe in erotischer Sphäre, welche
wiederum an sich polygam ist, wird hier zur ausschließenden Gewalt. Das ist ein er-
lebtes Faktum. Diese ausschließende Liebe ist vollkommen verschieden von Eifersucht,
von Besitzwille, von Machtbegier und Ehrbegriffen. Entspringt aus den letzteren ein
Würdegefühl der Selbstbehauptung, der Machterhaltung und Erweiterung, so aus der
ersteren ein Sinngefühl metaphysischer Erlebnisqualität.
Die sexuelle Sphäre läßt sich als gleichgültig empfinden, die Funktionen läßt der
Mensch als irrelevant einfach geschehen. Das Erotische ist für ihn Spiel und hat keine
Konsequenzen für die Seele. In dieser Einstellung kann weder Eifersucht noch meta-
physischer Sinn überhaupt Problem sein. Das scheint das Normale im Griechentum
gewesen zu sein.
Oder die sexuelle und erotische Sphäre ist das Kreatürliche, das Verächtliche und
Gehaßte, es ist an sich unter menschlicher Würde. Diese Sphären werden verneint. Es
gibt in dieser Einstellung nur Liebe und für das Erotische bloße Askese oder eine
131 kompromißlerische äußerliche Gesetzlichkeit. Das war vielfach das christliche Ver-
halten.
Bemächtigt sich aber die Liebe der Erotik, so bekommt das Erotische eine Weihe und
wird selbst eine Ursache zur höchsten Intensivierung der Bewegung der Liebe. Die Merk-
male dieses Verhaltens sind: a) das Sträuben gegen das Erotische, die Unfähigkeit, sich
frei erotischen Beziehungen zu überlassen, wie es griechisch wäre; b) die Abneigung ge-
gen die Gesinnung der Askese bei faktischer Askese; c) die Priorität der Liebe, die erst se-
kundär zur Erotik führt und durch sie jene absolut individuelle und einmalige Fixierung
erfährt, die unwiederholbar ist; d) das Bewußtsein, durch das Erotische gefesselt zu sein;
das Bewußtsein der unendlichen seelischen Folgen der erotischen Beziehung, das sich
aus den biologischen und bürgerlichen Folgen nicht zureichend begreifen läßt; e) das
Erotische bleibt problematisch und steht immer wieder im Streit mit der Liebe.
Warum diese Ausschließung im Erotischen durch die Liebe kommt, ist nicht end-
gültigbegreiflich. Man kann es deuten: Weil das Erotische und Sexuelle an sich als wür-
delos empfunden wird, kann es nur durch strengstes Gesetz Würde erhalten; dies Ge-
setz muß innerlich sein, und kann es nur werden durch die jede Distanz aufhebende
verstehende Beziehung zwischen zwei Menschen; man ist ins innerste Heiligtum ge-
drungen und kann seine Menschenwürde nur erhalten, indem hier ein Absolutes ge-
setzt wird. Ferner: Wir können das Ganze (das Universum, Gott) wohl lieben, aber
nicht in der Realität erfahren. Der Geist als Realität ist für uns nur Persönlichkeit. Wer
diese weltanschauliche Grundstellung erfährt, kann als Letztes überhaupt nur die Per-
 
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