Metadaten

Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0227
License: Free access  - all rights reserved
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
134

Psychologie der Weltanschauungen

sonst hoffnungslos zur Erotik, die noch so schwärmerisch, noch so berauscht sein mag;
sie mangelt des Enthusiasmus und ist irgendwo skeptisch und kynisch. Von der Liebe
her wird der Erotik und Sexualität, diesen Medien gesteigerter Lebendigkeit, keine Selb-
ständigkeit gelassen. Sie werden als Medien der Liebe, der einen monogamen, gestal-
133 tet und geben ihr die einmalig fixierte Kraft und Tiefe. Soweit die vereinende Ge | staltung
nicht gelingt - und es gelingt niemals völlig -, steht Liebe in Kampf auf Leben und Tod
mit Sexualität und Erotik, wobei dann oft die Liebe, selten auch Sexualität und Erotik,
vernichtet werden. Wie Sexualität die Erotik zu stören vermag durch Übereile, Unge-
staltetheit, Arhythmik, so stört Erotik die Liebe. Es ist ein Kampf zwischen diesen Sphä-
ren, wobei Sexualität und Erotik untereinander wohl oft, alle drei zusammen wohl nur
in seltenen Glücksfällen eine lebendige Synthese eingehen.
Das unergründliche Erlebnis im Enthusiasmus der Liebe, daß das endliche Einzel-
individuum das Absolute und Eine wird, findet seine Formulierungen nicht nur durch
PLATOnische Ideenlehre, christliche Gottbeziehung, sondern kann in anschaulichen
Symbolen ausgedrückt werden, deren Sinn zwischen metaphysischem Glauben und
bloßem Symbol eigentümlich schwanken mag. Goethes Worte über seine Liebe zu
Frau von Stein sind hierfür typisch:
»Ich kann mir die Bedeutsamkeit - die Macht, die diese Frau über mich hat, anders
nicht erklären als durch die Seelenwanderung. - Ja, wir waren einst Mann und Weib! -
Nun wissen wir von uns - verhüllt, in Geisterduft. - Ich habe keinen Namen für uns -
die Vergangenheit - die Zukunft - das All«').153 Aus derselben Zeit stammt das Gedicht
an Frau von Stein, in dem die Worte stehen, die das rätselvolle Durchsichtigwerden im
liebenden Verstehen zum Ausdruck bringen und die dasselbe Symbol der Seelenwan-
derung benutzen:
Warum gabst uns, Schicksal, die Gefühle,
Uns einander in das Herz zu sehen,
Um durch all die seltenen Gewühle
Unser wahr Verhältnis auszuspähen?
Sag’, was will das Schicksal uns bereiten?
Sag’, wie band es uns so rein genau?
Ach, du warst in abgelebten Zeiten
Meine Schwester oder meine Frau.
Kanntest jeden Zug in meinem Wesen,
Spähtest, wie die reinste Nerve klingt.
Konntest mich mit einem Blicke lesen,
Den so schwer ein sterblich Aug’ durchdringt.154

Brief an Wieland. April 1776.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften