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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0228
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Psychologie der Weltanschauungen

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Von der Charakteristik der Liebe in der besonderen Gestalt der Liebe der Geschlechter
kehren wir zur allgemeinen Charakteristik zurück. In der enthusiastischen Liebe gibt
es einen polaren Gegensatz der Arten, der hier, wie sonst in dem Verhältnis zum Abso-
luten, seine Wurzel darin hat, ob der Liebende aus der Einheit heraus, in der er das In-
dividuum im Absoluten liebt, sich auf die eine Seite | stellt: entweder mit einem Sprung 134
seine Liebe dem Absoluten zuwendet und das Individuum, das Konkrete übersieht,
oder so im Individuum sich verankert, daß das Absolute in diesem vollständig aufzu-
gehen scheint, beide zusammenfallen und das Individuum nicht mehr eingebettet im
Absoluten, sondern selbst ganz das Absolute ist, über das hinaus nichts ist. Der eine
liebt aus der Welt hinaus und vergißt die Welt, die Realität; der andere liebt in der Welt
und vergißt das Absolute. In Formeln objektiviert kann sich der erste auf die PlatonL
sche Eroslehre berufen, in der die Ideen, nicht Individuen geliebt werden, der letztere
dagegen auf die moderne Formel, er liebe das Individuum als Individuum.
Dieser Gegensatz, aus dessen Synthese die echte Liebe besteht, stellt sich in man-
nigfachen Gestalten dar. Allen Gestalten wird gemeinsam sein, daß es ernst ist, daß es
sich nicht um die billige Gemütsbewegung passiver und folgenloser Art handelt, die
sich wohl fälschlich Liebe nennt; die Folgen der Liebe in der Struktur des Menschen,
in seinem Leben und Handeln, im Schicksal sind überwältigend; es ist ein Entweder-
Oder, ganz oder gar nicht. In der Realität des Daseins des liebenden Menschen zeigt
sich die Liebe also auf alle Fälle. Entgegengesetzt aber ist ihr Verhalten zur Realität.
Dem liebenden Verstehen, das ganz auf das überirdische Absolute abgestellt ist, kommt
es auf Handeln und auf die Folgen und die Ereignisse in der Welt nicht an. Dem lie-
benden Verstehen in der Welt sind aber gerade die Erfolge, die Konsequenzen wichtig.
Tätig, eingreifend sind beide. Der eine ist im Akt der Liebe, der ihn und für ihn den an-
deren ins Absolute erhebt, befriedigt, sieht vielleicht auch staunend und ratlos an, was
für Unheil daraus im Laufe der diesseitigen Realitäten entstehen mag, stößt sich aber
nicht daran, sondern macht es weiter so. Er fühlt sich in Gottes Hand, empfindet sich
darum nicht als anmaßend; das Wesentliche ist geschehen, auf die diesseitige Welt
kommt es nicht an.
Die Liebe in der Welt stößt sich, kontrolliert sich stets an den Folgen, die in der Rea-
lität eintreten, lernt, erfährt, wandelt sich, empfindet tiefe Schuld, fühlt Hemmungen
aus Mangel an Wissen und Überblick. Die echteste Liebe kann im Handeln unsicher
werden, gerade weil sie im Handeln die Realität wichtig findet und sich in dem Kolli-
dieren mit ihr entwickelt und bereichert.
Die Liebe, die aus der Welt heraus tritt, ist in echter Form eminent selten (z.B. Franz
von Assisi), sie formalisiert sich schnell, sie ist Auflösungsprozeß, sie hat Tod zur
Folge. Der Gegensatz zwischen der Gebärde der helfenden Liebe und dem Elend, das
faktisch angerichtet wird, ist grotesk.
| Der eine liebt alles und alle (Franziskus), der andere nur ein Individuum. Doch 135
strahlt von hier die Liebe über alles irgendwie aus.
 
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