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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0229
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Psychologie der Weltanschauungen

Ein Mädchen verliert den Geliebten, dem sie als einzigem auf jene absolute Weise
verbunden war, durch den Tod - es kann jede eigentlich erotische oder sexuelle Bezie-
hung noch gefehlt haben -, sie verändert sich, auch körperlich, ist tätig, gütig, liebe-
voll gegen alle und doch wie in einer anderen Welt. Sie ist streng und doch überall hel-
fend, aber niemand ist seitdem von ihr als Individuum getroffen. Sie ist faktisch in
jener einmaligen Verbindung, die sie festhält in einem anderen Dasein, sie aber nicht
hindert, ja vielleicht treibt, in dieser Welt als Helfende, Sorgende, Gütige ihr Leben tä-
tig zu Ende zu führen.
In diesem Falle ist die Erscheinung ähnlich der des alles Liebenden. Nur daß hier
im Zentrum die Liebe zum konkreten Individuum steht (wie jene heiligen Liebenden
sie vielleicht durch ganz konkrete Jesusliebe ersetzten). Die menschliche Liebeskapa-
zität ist bei aller universalen Tendenz begrenzt. Jeder kann nicht jeden lieben. Solche
Liebe würde selten mit Gegenliebe beantwortet, ja abgelehnt. Falls die Liebe dieses
Zentrums entbehrt und sich dem Absoluten zuwendend nirgends mehr das Indivi-
duum, sondern alles liebt, so entsteht der Auflösungsprozeß, das Zerfließen, die Ge-
staltlosigkeit; und dabei wird niemand im echten Sinne der Liebe geliebt. Jeder ein-
zelne kann durch andere ersetzt werden. Die Liebe trifft den, der gerade in Berührung
mit dieser wahllosen Liebe kommt, zufällig. Das Zugrundegehen solcher Liebender
kann nur durch Voraussetzungen materieller Art von anderswoher, durch Institutio-
nen, wie sie nicht jederzeit in der Geschichte vorhanden sind, aufgehalten werden
(Mönchtum, Heiligenwesen).
Schließlich zieht sich diese Liebe außerhalb der Welt auch von dem wahllosen Aus-
teilen der Güte und der Hilfe zurück und wird ganz außerweltlich als ein mystischer,
bewegungsloser Zustand, als akosmistische Liebe,155 die zwar noch diesen Namen aber
mit der enthusiastischen Bewegung nichts mehr gemein hat. Der enthusiastischen
Liebe als einem Prozeß, einem Werden, steht die mystische als ruhende Vereinigung
gegenüber; der enthusiastischen Liebe, die in Zweiheit auf ein Objekt gerichtet ist,
steht die mystische gegenüber als gegenstandsloses Liebesgefühl.
Alle enthusiastische Liebe hat, wo auch in der menschlichen Geschichte sie auf-
taucht, etwas Verwandtes. Und doch ist ihre Gestalt so verschieden, weil sie in ihrem
Ausdruck jederzeit gewissen formulierten Weltanschauungen unterliegt, durch die zur
Manifestation des unsagbaren Absoluten irgendwelche Ziele von der Liebe intendiert
136 | werden: das Himmelreich, das ewige Seelenheil, der Aufschwung zum Einen, die ethi-
sche Selbstgestaltung, die Erkenntnis der Ideen, die Einrichtung in dieser Welt mit dem
Sinne der Kettung an ein Absolutes usw. Es sind nicht eigentliche Willensziele, viel-
mehr ist es der formulierte - nie zureichend formulierte - Sinn der Bewegung der en-
thusiastischen Liebe, der zugleich diese begrenzt, diszipliniert und die Tendenzen zur
Verengung und Formalisierung mit sich bringt.
6. Die enthusiastische Einstellung ist die Einstellung des Schaffenden. Der
Schaffende ist auf ein Ganzes in die Unendlichkeit gerichtet. Ihn beherrscht ein Ein-
 
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