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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0249
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Psychologie der Weltanschauungen

er dann von der Bewegung unseres ganzen Sonnensystems in der Richtung auf das
Sternbild des Herkules in unbekannter Bahn usw. - Wer diesen Weg des Sehens und
Denkens geht, der muß ein Weltbild erlebnismäßig gewinnen, das eine durchaus an-
dere Stellung gibt als jenes Bild des begrenzten Kosmos: Im Sinnlichen ist die Unend-
lichkeit greifbar aufgetan. Die Standfestigkeit in der sinnlich-räumlichen Welt hört
auf. Dazu kommt die zeitliche Perspektive durch die in den Gesteinsschichten und aus-
gestorbenen Tierformen anschauliche Erdgeschichte, die nur ein kleines Etwas in der
astronomischen Welt ist, und in der zeitlich die paarJahrtausende menschlicher Ge-
schichte nur ein fast verschwindender Moment sind. Es tun sich in dem Bilde unend-
lichen Fließens und Relativierens Möglichkeiten auf, die unser gesamtes Dasein als Da-
sein in der räumlichen Welt in Frage stellen: der Untergang des Planeten; die noch
ungeheuer lange, bevorstehende Entwicklung, gegenüber welcher die für unser histo-
risches Wissen abgelaufene nur ein erster Schritt ist; die gewaltig langen Zeiträume
prähistorischen menschlichen Lebens, der gegenüber wir gerade im Anfang histori-
scher Entwicklung sind; die Frage, wodurch dieser Umschwung in den unendlich lan-
157 gen Zeiträumen eingetreten sei; | die ganze bisherige Geschichte erscheint als bloßer
Moment des Erwachens, dem ungeheure Perspektiven bevorstehen, aber es ist auch
die Frage, ob dies Erwachen nicht ein bloßer Zwischenmoment sei; die Möglichkeit
der Mehrheit geistiger Welten außer der unseres Planeten usw. - Das sind Gedanken
im sinnlich-räumlichen Weltbild, die auch ohne dessen Verabsolutierung bestehen,
verabsolutiert aber einen spezifisch endlosen Charakter anzunehmen tendieren.
In diesem Weltbild kann jedoch die Unendlichkeit erfüllt sein. Es sind Anschaulich-
keiten, Tatsachen, die die Richtung weisen und in der immer unabgeschlossenen Welt
dem Menschen das Zentrum, den absoluten Ort in jeder Beziehung genommen haben.
Dies Unendliche ist eine Relativierung alles Sinnlich-Räumlichen. Als bloßer Gedanke
der Unendlichkeit besteht dieses Weltbild nicht, sondern alles Sinnlich-Räumliche wird
in ihm anders erlebt, nicht so fest, so endgültig. Alles Endliche, das in einem Unendli-
chen gesehen und aufgehoben wird, wird dadurch in seiner Würde einerseits herabge-
setzt, nichtiger, andererseits im ganzen als ein Relatives geborgen. Wurde sonst alle
sinnliche Welt im Unendlichen einer metaphysischen, jenseitigen Welt nichtig, so hat
mancher nach Verlust jener metaphysischen Welt diese Nichtigkeit des Endlichen im
unendlichen Kosmos erfahren und zu seinem Lebenselement werden lassen.
Der Gegensatz der Wertungen dieser Unendlichkeit der sinnlich-räumlichen Welt ist
kein notwendiger Gegensatz, sondern drückt Erfahrungen aus, die einer Synthese fä-
hig sind, weil es noch andere Unendlichkeiten als die raum-zeitliche gibt. Schiller
z.B. sah das Erhabene nicht im Raum, und Hegel sah darin nur eine schlechte, leere
Unendlichkeit; beide hatten offenbar hier nur die leere Wiederholung im Auge, nicht
die Erfüllung in Anschauung und erlebter Assimilation der Gedanken. Allein auf
Grund dieser Erfahrung der Unendlichkeit begreift man Kants Formel: Es gibt nur
zwei erhabene Dinge, den Sternenhimmel über mir und den guten Willen in mir.169
 
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