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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0255
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IÖ2

Psychologie der Weltanschauungen

Leere und Dürre und Farblosigkeit der entqualifizierenden mechanistischen For-
schung; er wollte ordnen, was gegeben ist, nicht erklären durch etwas, was niemand
sehen, niemand erfahren kann. Seine leitenden Kategorien waren Urphänomen, Ent-
wicklung und Steigerung, Kategorien, die das Anschauliche als solches ausdrücken
und die im naturmechanischen Weltbild überhaupt keinen Ort haben. Goethes Ein-
sichten in der Farbenlehre sind von naturgeschichtlicher, phänomenologischer Art
und von psychologischer, in das naturmythische Weltbild hineinragender Art. Hier
164 sind sie ebenso un | antastbar, weil Ausdruck eigener Sphären des Weltbilds, wie die me-
chanistischen Einsichten in ihrem Kreise zu Hause sind.
b) Die romantische Naturphilosophie versuchte das Naturmythische, die Anschau-
lichkeit von Analogien und Beziehungen an die Stelle sowohl naturgeschichtlicher als
naturmechanischer Einsicht zu setzen, indem sie diese Anschaulichkeiten zum Teil in
den logischen Formen dieser letzten Weltbilder vortrug. Gegen die Naturwissenschaft,
sei sie mechanistisch oder morphologisch, sah sie die Natur als ein Ganzes lebendig
und seelisch. Statt der gesetzmäßigen Entwicklung eines Seelenlosen und Geistlosen
sah sie in den Naturerscheinungen Manifestationen dunkler seelischer Vorgänge, sinn-
voller Willenskräfte. Der Wille als Naturkraft wirkt magisch, dem Bewußtsein wird
diese geheimnisvolle Welt im Hellsehen offenbar. - Die Reaktion der Naturwissenschaft
war unvermeidlich. Die Verwirrung von Naturerkenntnis im mechanischen und ge-
schichtlichen Sinn und von Naturmythus mußte gelöst werden. Eine neue Verabsolu-
tierung des Mechanischen war die Folge').177
Der Kampf der Weltbilder beginnt immer erst mit der Verabsolutierung, bei dem
ausschließenden Geltenwollen eines Weltbildes für alles und alle: Die Natur ist kein
bloßer toter Mechanismus, keine bloße Lebendigkeit, keine bloße mythische Welt. Sie
ist alles, aber nur für den positiv Sehenden und den im Augenblick ausschließend Se-
henden, nicht für den Verneinenden, der von jedem Standpunkt nur das Nein für die
anderen nimmt.
Dem Kampf der drei Weltbilder wirkt die Synthese entgegen. Vollkommen rein ist
keines der drei möglich; was gerade eine Quelle des Kampfes bleibt, aber auch die Syn-
these fordert. Das reinste mechanische Weltbild kommt nicht um letzte Qualitäten
herum, um irgendwelche Anschaulichkeiten, die nicht restlos in das Maß und die Ma-
thematik aufgehen. Das naturgeschichtliche Weltbild benutzt immerfort die mecha-
nischen Einsichten, die es subordiniert. Alle Naturbeschreibung setzt das jeweils be-

Zwei Anekdoten von v. Üxküll zeigen drastisch den Gegensatz des mechanischen und des natur-
geschichtlichen Weltbildes: Auf die Frage, woher die Waschbottiche kommen, meint ein hessi-
scher Bauernjunge: die »wachsen« auf den Bäumen tief im Walde. Ein Berliner Mädchen erklärte
sie sofort für »gemacht«; woraus? aus Holz; woher aber kommt das Holz? Auf die Behauptung, die
Bäume würden nicht gemacht, die wüchsen, erklärte die Berlinerin: Ach was, irgendwo werden
die auch schon gemacht werden. Die Welt ist dem einen ein geheimnisvolles Wachsen und Wer-
den, für den anderen ist sie eine Rechenmaschine und übersehbar.
 
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