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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0261
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Psychologie der Weltanschauungen

So durchflechten sich in den Vorstellungen von der Seele und der Kulturwelt alle
Richtungen der Weltbilder. Es ist jetzt der Versuch zu machen, von diesen Verflech-
tungen abzusehen und die spezifischen Züge des Verstehbaren in seinen typischen Ge-
stalten zu charakterisieren.
1. Die unmittelbare Welt. Kein Mensch hat bloß sinnliche Wahrnehmungsinhalte
als sein Weltbild, sondern jeder trägt Verstehbares in seiner Seele. Doch pflegt uns un-
ser praktisches Verstehen, z.B. in unserer Reaktion auf Menschen, auf Taten, auf Kunst-
171 werke nicht gegenständlich bewußt zu sein. Es wird nicht unter| scheidend fixiert und
formuliert. Wir leben in einer Welt des Verstandenen und Verstehbaren, ohne es zu
wissen, unkritisch, uns nicht kontrollierend, begrenzt. Es ist eine unmittelbare Welt.
Wie selbstverständlich, ohne zu fragen, wird die Gegenwart, das gewohnte und sich
immer gleichbleibende soziale Milieu, das eigene Seelenleben, Fühlen und Wünschen
für das einzige gehalten. Alles andere wird ganz naiv als völlig übereinstimmend mit
sich selbst gesehen und beurteilt. Es gibt im Grunde nur das »Vernünftige« (das eigene
Dasein) und das »Verrückte« (was damit nicht übereinstimmt). Kommt zufällig ein Da-
tum, eine Erzählung aus der Vergangenheit, aus fremden Welten zu Gehör, so wird das
Ereignis als völlig wesensgleich mit dem Gegenwärtigen gesehen. Die Welt dieses Men-
schen ist geschichtslos. Er lebt nur im Unmittelbaren und ahnt nicht einmal, daß er in
einem engen Horizont lebt, ahnt nicht, daß hinter dessen Grenzen überhaupt noch
etwas existiert.
Das Leben in dieser Welt des unmittelbar Verständlichen, des Eigenen, ist ein Le-
ben in dieser Welt als einer absoluten. Es gibt keine Vergleiche, darum keine Proble-
matik, daher auch kein Bewußtsein des eigenen Daseins als eines besonderen. Auch
bei Wissen von der äußeren Existenz anderer innerer Welten bleibt als Leben dieses
Begrenztsein im Unmittelbaren noch erhalten. Das Fremde wird mißverstanden, auf
Motive und Zwecke der eigenen Welt zurückgeführt, als aus bösem Willen oder Dumm-
heit entstanden angesehen.
Dieses Leben im Nahen als einzigem erstreckt sich, auch wenn wir die späteren
Weltbilder des Verstehbaren erwerben, in uns selbst hinein in breiten Ausläufern, ohne
daß wir es merken. Unsere Welt ist voll davon. Es bleibt das Normale, in dieser unmit-
telbaren Welt zu leben und sich von ihr leiten zu lassen.
Das unmittelbare soziologische Weltbild kann sehr reich sein, das Konkrete, das
den einzelnen Menschen berührt, ist so mannigfaltig, daß die bewußte, formulierte
Aufnahme alles dessen in sein Leben ein umfangreiches, gegliedertes Weltbild bedeu-
ten würde. Fast alle aber erfahren viel, das darum doch nicht ihrem tatsächlichen Welt-
bild zufließt.
2. Die Welt des Anderen und Fremden. Erst wenn etwas Verstandenes nicht nur
in tatsächlicher Reaktion des Subjekts erfahren, sondern gegenständlich, d.h. gewußt
wird, ist ein Unterscheiden, Auffassen, Vergleichen möglich; damit entsteht erst ein ge-
gliedertes Weltbild der verstehbaren Inhalte, d.h. der geistigen Werke und der Seelen.
 
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