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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0274
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Psychologie der Weltanschauungen

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lungen ins Gesicht schlagend ist z.B. die Platons, daß die Welt der Ideen das övrcot; öv,
das wahrhaft Seiende, dagegen die Sinnenwelt in Raum und Zeit das /u) öv, das nicht
Wirkliche, sei. So haben die Metaphysiker (d.h. die Philosophen, die diese Weltbilder,
die tatsächlich in den Köpfen der Menschen lebendig waren, formulierten oder sie neu-
schaffend in den Seelen erst erweckten) immer wieder auch Grade der Wirklichkeit ge-
kannt. Indem ein Prozeß gesehen wurde, durch den der Mensch diese Wirklichkeits-
stufen aufwärts oder abwärts durchlaufen kann, fielen diese Stufen mit Wertgraden
zusammen; Wert und vor allem Wertgegensatz und Sollen bleiben aber etwas Sekun-
däres für den, der im metaphysischen Weltbild als seiner eigentlichen Atmosphäre lebt.
Die Frage, was ist Wirklichkeit, scheint dem typischen modernen Menschen, was
sein lebendiges Gefühl angeht, so einfach. Wirklich ist im physikalischen Weltbild,
was meßbar ist; d.h. das Wirkliche ist in Raum und Zeit und hat dadurch jedenfalls im-
mer Seiten, die räumlich und zeitlich, d.i. meßbar sind. Meßbarkeit und Wirklichkeit
fällt dem Physiker daher zusammen. Dieser Wirklichkeitsbegriff ist oft auch der der
Naturwissenschaft überhaupt, soviel sie es auch mit quantitativen, nicht meßbaren
Dingen zu tun hat, oder mit Dingen, die sie nach ihrer nicht meßbaren Seite interes-
sieren. Solche Wirklichkeit ist definierbar als diejenige, die irgendwie durch Sinneswahr-
nehmung geht; sie ist auch raum-zeitlich, aber qualitativ sinnlich. Die Wirklichkeit der
seelischen Welt ist dann diejenige, die sich in raumzeitliches Außen auswirkt, sich aus-
drückt, Folgen hat; was auf keine Weise nach außen tritt, ist für den Psychologen nicht
wirklich. Diese Wirklichkeitswelten mögen manche | logischen Schwierigkeiten erge-
ben (Potentialität und Aktualität, Zugrundeliegendes und Erscheinung u.dgl.), für uns
ist es im konkreten Fall nicht ernstlich zweifelhaft, ob eine Wirklichkeit vorliegt, oder,
wenn der Zweifel da ist, was dann zu fragen und zu untersuchen ist, um die Wirklich-
keit festzustellen (nämlich irgendein Dasein in der sinnlich-räumlichen Welt).
Diese Wirklichkeit ist aber keineswegs die einzige, in der Menschen leben. In unse-
rer psychologischen Betrachtung wollen wir ja nicht feststellen, was Wirklichkeit für
uns ist, sondern was Wirklichkeit für Menschen überhaupt ist. Es gibt psychologisch
als Welten verschiedener Menschen faktisch verschiedene Wirklichkeiten, und es ist
selbst bei ganz modernen Menschen ungewiß, ob wir nicht unbewußt trotz aller Theo-
rie und alles Sprechens von der Wirklichkeit faktisch auch in anderen »Wirklichkei-
ten« leben. Kriterien, ob solche Wirklichkeiten anderer Art für einen Menschen da
sind, sind die Folgen, die diese Welten für sein Seelenleben, seine Gefühle, seine Stim-
mungen, seine Handlungen, Erwartungen, Hoffnungen haben.
Von einem Weltbild der Wirklichkeit kann man nicht sprechen, wenn einfach das
»Unmittelbare« die Wirklichkeit ist. Im Gegenteil, Wirklichkeit entsteht erst für den
Menschen als Gegensatz zum Unwirklichen, wenn das Unmittelbare in Beziehung ge-
setzt, kontrolliert, geordnet wird. Der Zusammenhang der Erfahrungen und des Den-
kens baut aus dem Unmittelbaren für den Menschen die für ihn vorhandene Wirklich-
keit erst auf. Insofern ist die Wirklichkeit für den Menschen nie fertig. Sie wird leicht

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