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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0276
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Psychologie der Weltanschauungen

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dringt alle konkreten Weltbilder, sie umfassend. Der Mensch ist »fromm zu den Din-
gen«, die er leibhaftig faßt, sieht, erfährt. Es entsteht keine losgelöste Welt, die die
metaphysische wäre, sondern alles, was ist, ist auch metaphysisch. Indem wir leben,
leben wir schon unmittelbar im Metaphysischen und bedürfen nirgends eines Sprun-
ges in ein Fremdes. Weil aber das Ganze als Ganzes nicht das Einzelne ist, das Einzelne
aber von uns allein erfahren wird und das Ganze nur im Einzelnen, so hat alles sym-
bolischen, gleichnishaften Charakter. Das heißt | nicht, daß es Symbol für ein Ande-
res wäre, denn das Ganze ist ja darin. Es ist vielmehr dieses, daß das Einzelne zugleich
ein Ganzes und im Ganzen ist, was Symbol heißt.
Alles gedankliche Aussprechen dieses Metaphysischen aber führt unwillkürlich zu
einer Formulierung, die zwei Welten, die der Einzelheiten, der Konkretheiten unseres
Lebens und die jenes Ganzen zu trennen scheint. Und immer wieder entspringen dar-
aus Lehren und dann ein Leben, für das diese Trennung, die Trennung von Jenseits und
Diesseits die Grundstruktur des Weltbildes wird.
In dieser Trennung von Diesseits und Jenseits ist die Welt gespalten: auf der einen
Seite das entseelte, gleichgültige, endliche, verworfene, zu überwindende Diesseits, in
dem allein aber wir leben, das allein wir konkret anschauen, an das wir gefesselt sind;
und auf der anderen Seite das Jenseits, das allein Wesentliche, Seiende, Unendliche,
Eigentliche, zu Erringende, dem wir aber fernstehen, das wir nicht sehen, in dem wir
nicht leben, sondern zu dem hin wir leben.
Das Jenseits kann erfüllt sein mit Gestalten, die Projektionen diesseitiger Anschau-
lichkeiten in jene andere Welt sind. Das Leben ist nicht ein Leben in diesem Jenseits,
sondern ein bloßer Glaube daran, ein bloßes Gerichtetsein darauf. Alle Bedeutung im
Diesseits, das an sich nichtig ist, muß irgendwie aus dieser fremden Welt abgeleitet,
gerechtfertigt werden. Es entstehen Gedankengebilde und Imperative, die von hierher
das nichtige Diesseits gestalten. Aber das Jenseits als solches macht unvermeidlich ei-
nen Entleerungsprozeß durch. Entsprungen aus der unmittelbaren Ganzheit, mit Ge-
walt einem nichtigen Diesseits gegenüber fixiert und mit den ungeheuersten Kräften
dieses durch die aus ihm entwickelten Gedanken und Imperative formend, wird es
schließlich als Substanz selbst nichts; im Moment, wo die skeptische Frage auftaucht,
fällt es zusammen. Es entspringt, da auch das Diesseits entseelt, wie es war, zunächst
noch ist, die Verzweiflung des Nihilismus.
Da wir in Subjekt-Objekt-Spaltung leben, ist die Form des Jenseitsgedankens die
unvermeidliche für die stärkste mögliche Prägung, der gegenüber die Lehre von un-
mittelbarer Ganzheit und die Lehre von Dämonen und dergleichen erschlaffend wirkt.
Keine Form des Weltbildes kann den Menschen so ergreifen, als Totalität erfassen, ihm
Ziel und Sinn, Halt und Glauben geben wie diese.
Die Spaltung in Diesseits und Jenseits gewinnt daher, neben der Zerbröckelung in
nihilistische Zweifel, eine neue Synthese. Die Spaltung wird nicht als eine schroffe
festgehalten, sondern verwandelt in eine Hierarchie von Wirklichkeitsarten oder

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