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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0291
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Psychologie der Weltanschauungen

zu einem Ganzen, das im anschaulichen Denken gegeben werden soll, das Wasser als das Allver-
breitete, Eindrucksvollste, vielleicht auch als den mittleren Aggregatzustand, aus dem und zu
dem alles wird, verabsolutiert. Es ist der ungeheure Sprung zum Ganzen mit einem einfachen
Begriff, ohne Theogonie und Kosmogonie. Der bloße Gedanke soll alles begreiflich machen.
Den zweiten noch ungeheureren Sprung tat Anaximander: Das Ganze ist das äneipov (das
Unbegrenzte, Unbestimmte)1)■ Es ist der Sprung vom Sinnlich-Anschaulichen zum reinen Be-
griff. Alles in der unübersehbaren Mannigfaltigkeit der sichtbaren Welt ist individuell, begrenzt,
bestimmt. Das, woraus alles wird und wozu alles zurückkehrt, kann nicht solch Einzelnes, Be-
stimmtes sein (was doch auch das Wasser ist), es kann als kein Einzelnes auch nicht anschau-
lich sein. Es kann also nur negativ bestimmt werden (durch die Silbe dt-). Gegenüber der kon-
kreten Unendlichkeit des Raumes, des Verstehbaren, des Individuums ist hier das Unendliche
überhaupt, ohne alle Differenzierung, gemeint. Aber dieser Begriff hat für unser Denken doch
analogerweise einen Anschauungsinhalt. Er ist nicht bloß logisch gedacht. Er ergreift uns und
wir können uns die gedankliche Verzückung seines Schöpfers gar nicht tief genug vorstellen.
Anaximander schaute ein philosophisches Weltbild - wenn auch in primitiver Form.
Der dritte Milesier, Anaximenes,260 fand nun schon die philosophische Tradition der beiden
vor. Er war rezeptiv, aber er wollte er selbst und originell sein. Er sah selbst nichts und erst recht
nichts Neues. Um ein neues philosophisches Weltbild hinzustellen, blieb ihm nur eine Mög-
lichkeit: Er kombinierte und vermittelte, gab jedem und keinem recht und besaß vermeintlich
selbst die letzte Wahrheit. Er dachte, aber ohne neuen Sprung: Sinnlich wie Thales’ Begriff des
Wassers, und unbegrenzt, wie Anaximanders Begriff des äneipov mußte das absolute Prinzip
sein. So gab er den großen gedanklichen Schritt Anaximanders wieder auf, indem er lehrte, al-
les sei Luft.261
206 | In diesen drei ersten Philosophen haben wir den Typus des sinnlich schauenden Philoso-
phen, der im Sinnlichen auf das Absolute gerichtet ist; den Typus des anschauend (d.h. nicht
bloß logisch) Denkenden, und zuletzt den weder schauenden noch intuitiv Denkenden, son-
dern bloß logisch Konstruierenden.
Die milesische Entwicklung riß ab mit der Zerstörung Milets durch die Perser oder vielleicht
schon vorher. Im gleichen Jahrhundert hatte sich ein ganz anderer Typus philosophischen Welt-
bildes in der pythagoreischen Schule entwickelt:
Wir stellen uns die Pythagoreer vor, wie sie in religiöser Tiefe, im Mystizismus und orphi-
schen Erlösungsbedürfnis lebten. Sie hielten zu gutem Teile fest an dem mythischen Weltbild
der vorphilosophischen Zeit. Es herrschte ein festgeregeltes, gebundenes Leben in der Schule,
man lebt nach festen Grundsätzen in aristokratisch-konservativer Gesinnung. Die einzelne Per-
sönlichkeit tritt zurück. Man lebt in Tradition und in einem nicht völlig einheitlichen und nicht
vom einzelnen selbst original gedachten Weltbild. In dieser Atmosphäre entwickelte sich bei
einzelnen Menschen ein Forschen mit auffallend vielen konkreten Entdeckungen (Grundlage
waren Mathematik - pythagoreischer Lehrsatz -, Harmonielehre - Erkenntnis der Bedeutung
der Seitenlänge -, astronomische Vorstellungen, die Erde drehe sich um sich selbst und um ein
Zentralfeuer). Die Pythagoreer waren an realen Naturerkenntnissen überlegen, aber unterlegen
an Freiheit des philosophischen Denkens vom Ganzen durch ihre schulmäßige und religiöse
Bindung. Es ist das ein typisches Verhältnis: Bei Gebundenheit im Ganzen kann sich gerade im
Einzelnen eine besondere Vorurteilslosigkeit entfalten, wenn man die Vorstellungen eines dem

Von den anderen Überlieferungen mythischer und ethischer Art aus seiner Lehre sehen wir ab.
 
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