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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0297
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Psychologie der Weltanschauungen

und Sein ist dasselbe« (5). Unbemerkt ist aber das ganze Resultat nur das Eine: eaa yäp eivai (es
ist ein Sein). Jede nähere Erörterung führt auf zu verwerfende Begriffe vom Nichtseienden. Ab-
gewandt von der Scheinwelt wirft die Lust am reinen Begriff alles fort und was dem anschauen-
den Geiste schließlich ein Nichts wird, ein leerer Begriff, das bloße Sein, das ist ihr alles.
Damit ist gerade durch die begrenzte Problematik der schauende Denker schon auf einen Weg
geraten, den sein Schüler Zenon270 mit außerordentlicher Intensität betritt: Das reine Denken löst
sich von aller Anschauung, und in bloßer formaler Logik (Zenon wird der Erfinder der Dialektik
genannt) arbeitet nur noch der Verstand, glaubt vielleicht noch ein Weltbild zu haben, hat es aber
über dem Arbeiten der als Mittel verwandten Denkmaschine ganz verloren. Grundprinzip ist jetzt
überhaupt nicht mehr das Schauen eines philosophischen Weltbildes, sondern allein der Satz des
Widerspruchs. Es wird nicht mehr Geschautes »gezeigt« (Heraklit) sondern Behauptungen wer-
den »bewiesen«. »Beweis« gilt jetzt alles in einer Sphäre, wo alles Beweisen sich letztlich als un-
möglich herausstellte. Das Errechnen an der logischen Strickleiter (Nietzsche)271 soll leisten, was
das erlebte und erschütternde Schauen den Großen leistete. Dafür lechzt man nach formallogi-
scher »Gewißheit«, da alle andere Gewißheit dem Menschen verloren ging.
Diesen Typus des logischen Weltbilds repräsentiert Zenon in großartiger - noch keineswegs
kleinlich spitzfindiger Weise. Er »beweist« 1. daß es keine Vielheit des Seienden geben kann;
2. daß es keine Bewegung geben kann. Für die Beweise gegen die Bewegung ist ein Beispiel der
von Achilles und der Schildkröte: Achilles kann die Schildkröte nicht einholen, weil er erst die
Hälfte des Wegs zurücklegen muß, dann von der bleibenden Hälfte die Hälfte und so fort ins Un-
endliche. Das Prinzip ist: Abgeschlossene Unendlichkeit kann nicht gedacht werden.
Das Resultat solchen formalen Denkens ist ein ewig typisches, ebenso wie die Methode: Es
wird eine Disjunktion gegeben oder eine vollständige Aufstellung aller Möglichkeiten, jede wird
einzeln widerlegt, indem irgendeine Konsequenz als gegen den Satz des Widerspruchs versto-
213 ßend aufgezeigt | wird. Es wird der Schluß gezogen, daß das Übrigbleibende das Richtige sein
muß; oder es wird alles als unmöglich »bewiesen« und geschlossen: Jede Erkenntnis ist unmög-
lich. In jedem Falle ist das Resultat ein völlig leerer und darum ganz gleichgültiger Begriff: Wenn
man auf alle Gründung durch Anschauung verzichtet, kann alle Logik nur verneinen, negative
Aussagen machen, und das tut sie so lange, bis gar nichts mehr übrig bleibt, als ein negativ de-
finierter Begriff - hier das Sein. -
Einen weiteren Typus hat in neuerer Zeit das formale Verfahren durch die Ausläufer der
HEGELschen Dialektik, die als solche ursprünglich auf Intuition beruhte, bekommen. Man sucht
zu allen Widersprüchen die Mediation, läßt alles gelten und gar nichts ganz, ist sehr klug und
meint eigentlich nichts. Der Weg ist komplizierter als der nach dem Satz des Widerspruchs, aber
das Weltbild ist, psychologisch angesehen, ganz ähnlich. -
Neben dem Typus des Schauens, des substantiellen Denkens und des leeren Denkens taucht
jetzt ein neuer Typus in Demokrit auf; das umfassende, besonnene Sehen der ganzen Welt im
Ordnen zu einem System. Belastet mit einer immerhin nun schon erheblichen Tradition voll Be-
dürfnis, Leben und Welt zu sehen (Reisen, Sammellust), legt er sein Wissen in zahlreichen Schrif-
ten nieder, die das gesamte damalige Weltbild umfassen. Philosophisch entwickelt er den Ato-
mismus (von Leukipp272 gefunden) und das Weltbild der mechanischen Naturkausalität.
Philosophisch ist es nur dadurch, daß es zum Ansich der Welt verabsolutiert ist. Es ist nicht ei-
gentlich geschaut, aber in Hinblick auf konkretes Sehen ausgedacht, nicht formal errechnet und
spitzfindig erwiesen, sondern milde und besonnen mit ruhiger Überzeugung der Ordnung alles
Wissens zugrunde gelegt. Es ist charakteristisch für Demokrit, daß er uns als eine ehrwürdige,
 
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