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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0308
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Psychologie der Weltanschauungen

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ihre Charakteristik fällt vielfach mit der Charakteristik mystischer Zustände zusammen. Sie ist
durch Gnade bedingt und zugleich inhaltlich unfrei, kirchlich. Wenn durch die hohe Wertung
der Weisheit eine Ähnlichkeit mit Plato gegenüber dem Cicero erscheint, so fehlt doch ge-
rade - im Gegensatz zu Plato - die Höchstwertung von Maß und Ordnung in allem zur Gestal-
tung des menschlichen Mikrokosmos; an Stelle dieser PLATOnischen Weite und Freiheit tritt
eine Verengung auf das Jenseits; an Stelle der Einordnung von allem die Unterdrückung und
Ausschaltung von Trieben und Weltlichkeiten.
Extrem ist die Wandlung in der Wertung der Erkenntnis. Für Plato ist sie das Höchste. Er-
kennen ist Selbstzweck, Kontemplation das Ziel des menschlichen Daseins, das sich darin schon
in diesem Leben von den Fesseln des Sinnlichen befreit. Der Mensch will erkennen, und die
Welt will erkannt werden, das scheint der Sinn des Daseins; so haben Aristoteles und viele
spätere dem philosophischen Denken den Gipfel der Wertpyramide eingeräumt. Bei Cicero
aber ist alle Erkenntnis unfruchtbar, die nicht zum Handeln wird. Beim Christen ist die Erkennt-
nis nur ein anderer | Ausdruck für Schauen Gottes und die rationale Bewegung in Abhängigkeit
von der Theologie.
Dieses Beispiel vom Wandel der vier Kardinaltugenden, die dem Namen nach die
gleichen bleiben, zeigt, wie wenig eindeutig und bestimmt Wertrangordnungen sind,
wie mit veränderter Rangordnung auch der Sinn selbst sich mit zu verschieben scheint,
und wie solche Rangordnungen, indem sie unvermeidlich ein Schema möglicher
Werte zugrunde legen, eine große Menge von Werten nur künstlich, nur nachträglich
einzugliedern vermögen, weil sie eben nur aus einem oder wenigen Gesichtspunkten
gesehen werden. Es gibt nicht eine Anzahl Werte, die sich ordnen ließen, und die
durch Permutation verschiedene Rangordnungen ergeben. Die Lebensregeln sind er-
starrte Formeln lebendiger Wertungen, die einmal da waren und auch wohl immer
ähnlich wiederkehren. Aber sie sind nicht erschöpfend, und neue lebendige Wertun-
gen brauchen nicht etwa Umkehrungen alter Rangordnungen zu sein, sondern sie ver-
mögen ganz anderen Sinn, anderes Niveau zu schaffen, so daß der Vergleich mit an-
deren Rangordnungen nicht durchsichtig und eindeutig ist. So war es mit den
Kardinaltugenden: der Name blieb, aber es wurde nicht etwa einfach die Rangordnung
verkehrt, sondern es wurden ganz andere Werte eingesetzt, andere ignoriert: so von
Cicero neu eingeführt das decorum, vom Christentum das Schauen Gottes und was
damit zusammenhängt, von beiden aber der eigentliche Sinn des platonischen Maßes
und der platonischen Gerechtigkeit fortgelassen (wie schon Aristoteles das Maß zu
dem Mittleren zwischen zwei Extremen verflacht hatte).
Es gibt also ganz andere Rangordnungen, wenn andere Wertschemata vorausgesetzt
werden. Bei ihnen wird man Berührung mit den eben geschilderten finden, dann aber
auch ganz andere Gesichtspunkte. Es seien nur aufgezählt: Aristoteles stellte die auf-
wärts führende Reihe auf des ttoisiv, itpaTTsiv, dempsiv,290 d.h. ungefähr: dem Künstler
ist an Wert der handelnde Staatsmann, diesem der Philosoph vorzuziehen. - Nietzsche
stellte einmal die Reihe auf: Wissenschaft, Kunst, Leben, und stellte also die Wissen-
schaft am niedrigsten.291 Oder er unterschied als aufsteigende Wertreihe: du sollst, ich

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