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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0313
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Psychologie der Weltanschauungen

Diese Grenzsituationen als solche sind für das Leben unerträglich, sie treten daher
in restloser Klarheit fast nie in unsere lebendige Erfahrung ein, sondern wir haben fak-
tisch fast immer angesichts der Grenzsituationen einen Halt. Ohne ihn würde das Le-
ben aufhören. Der Mensch ist faktisch relativ selten verzweifelt. Er hat einen Halt, be-
vor er überhaupt verzweifelt werden kann; nicht jeder, die wenigsten leben in
Grenzsituationen. Wir fragen, was bedingt es, daß sie nicht dahin kommen, oder daß
sie heraus kommen. Damit treffen wir das Zentrum der Geistestypen. Welchen Halt
der Mensch hat, wie er ihn hat, sucht, findet, bewahrt, das ist der charakteristische
Ausdruck der in ihm lebendigen Kräfte. Fragen wir nach dem Geistestypus, so fragen
wir, wo der Mensch seinen Halt habe.
Bevor die Grenzsituationen genauer bezeichnet werden, sei noch einmal mit an-
230 deren Worten die Gesamtsituation charakterisiert. Der | Mensch lebt wesentlich in der
Form der Subjekt-Objekt-Spaltung und hier nie in einem Ruhezustand, sondern im-
mer in einem Streben auf irgendwelche Ziele, Zwecke, Werte, Güter hin. Damit sind
nicht bloß rational klar gedachte Zwecke gemeint, sondern jede Einstellung auf ein
Gut, jede Richtung des Strebens, die dem Lebenden vielleicht gar nicht rational klar
bewußt ist. Die Fülle der Werte ordnet sich dem Menschen mehr oder weniger in hier-
archische Reihen, in Werte, die bloß Mittel zu anderen Werten sind, oder die geringer
als andere Werte sind. Und wenn solche Relativierung einmal begonnen hat, so führt
die Unterscheidung zwischen relativen und absoluten Werten zu einem Zweifel an der
Absolutheit jedes konkreten Wertes. Es taucht für das Wissenwollen und erst recht für
das Handeln die Frage auf: was soll ich tun, um dem höchsten Wert zu dienen, auf den
es eigentlich für die Totalität des Menschen und seines Lebens ankommt. Die Frage
des Endzwecks (des absoluten »Telos«) ist da, und wie der Mensch auch Reihen der
Werte bildet, immer gerät er an eine Grenze, über die die Reihe noch weiter gehen mag.
Dem Erstreben der Werte stellt sich nun weiter überall ein Widerstand entgegen.
Diese Widerstände werden vielfach als zufällig, vermeidbar, überwindbar erlebt und
aufgefaßt; als solche sind sie endlichen Charakters und bilden keine Grenze. Die Wi-
derstände bedeuten zwar Unglück und Leid für den Menschen, aber solange das Wer-
terreichen beherrschend bleibt, sind sie untergeordnet und bloß relative Hemmun-
gen. Die Welterfahrung zeigt aber dem Menschen auch hier eine Reihe ins Absolute:
wie er sich auch der Herrschaft der Werte und ihrer Verwirklichung bewußt wird, -
sobald er sich der Totalität vergewissern will, findet er alles Erreichte und Erreichbare ein-
gebettet in die Widerstände und die Zerstörungen des Weltlaufs. An der Grenze scheint
überall für die Erfahrung der absolute Zufall, der Tod, die Schuld zu stehen. In den Be-
dingungen des Wertentstehens ist nichts garantiert und notwendig für sein Auge, son-
dern das Letzte der Zufall, und allem Dasein der Werte folgt für sein empirisches Auge
die vollständige Zerstörung.
Die äußere Situation - so wechselnd sie ist, und so ungleichmäßig sie verschiedene
Menschen trifft - ist für alle zweischneidig, fördernd und hemmend, unvermeidlich be-
 
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