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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0321
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228

Psychologie der Weltanschauungen

lust in Kauf nehmen. Wer keine Unlust will, muß auf Lust verzichten (wie der Stoiker).
Askese steigert die Wollust. Erst der Asket erlebt die Versuchungen des heiligen
Antonius,2" kommt aber auch nicht um sie herum.
Charakterologisch sind entgegengesetzte Eigenschaften aneinander gebunden. All-
gemein formuliert es Goethe: »Das, was wir bös nennen, ist nur die andere Seite vom
Guten, die so notwendig zu seiner Existenz und in das Ganze gehört, als zona torrida300
brennen und Lappland einfrieren muß, daß es einen gemäßigten Himmelsstrich
gebe«');301 und Nietzsche: »Unsere Einsicht ist die ...: daß mit jedem Wachstum des
Menschen auch seine Kehrseite wachsen muß, daß der höchste Mensch, gesetzt, daß
ein solcher Begriff erlaubt ist, der Mensch wäre, welcher den Gegensatzcharakter des
Daseins am stärksten darstellte«“).302
Die individuelle Entwicklung vollzieht sich in Gegensätzen, so daß wir etwas oft erst
dann verneinen können, nachdem wir es getan haben, Lebensgrundsätze haben und
befolgen können, seitdem wir nach anderen einmal gelebt haben. Nur wer »Sünder«
ist, kann auch »moralisch« sein. Was dem einen evident und für sein Leben durchführ-
bar ist, weil er das Gegenteil hinter sich hat, ist für den anderen leer und nichtig oder
unecht. Die großen Bekehrten: Augustin, Franciskus, Tolstoi haben ihre Lebens-
form gewonnen nach einem weltlichen Dasein. Bei jedem, der ihnen folgt, ohne die
Vorbedingung, muß diese Lebensform einen absolut anderen Charakter haben.
240 | Unsere Existenz besteht zwischen Gegenpolen, die jeder für sich uns in ein Chaos
oder in eine tote Daseinsform brächten, zusammen aber Entgegengesetztes fordern
und wirken: Schulung und natürliches Wachstum, Sitte und Originalität, Form und
Seelenhaftigkeit, Anpassung und Selbstbehauptung usw.
Für die Selbstgestaltung ist daher kein gerader, auf Rezepte zu bringender Weg denk-
bar, sofern sie lebendig bleibt. Es gibt wohl das augenblickliche, entscheidende Ent-
weder-Oder, aber es gibt kein allgemeines Entweder-Oder überhaupt. Für die Selbst-
gestaltung ist der Übergang der Gegensätze ineinander die empfindlichste Stelle der
Selbstauffassung. Es ist zum Verzweifeln, wenn der Mensch gerade im feinsten, nicht
objektiv zum deutlichen Ausdruck kommenden, nur der Selbstwahrnehmung erkenn-
baren Erleben die Gegensätze durch haarfeine Linien geschieden sieht, welche beim
Überschreiten kaum bemerkt werden. Gerade phänomenologisch Verwandtes, dem
Sinn und der ethischen Qualität nach Entgegengesetztes - weil von entgegengesetz-
ten Folgen für die Prägung der Persönlichkeit - schlägt immer wieder ineinander um:
Liebe in Machtinstinkte, Selbstbewußtsein in Eitelkeit, Selbsterziehung in Unechtheit,
gegenseitiges Verstehen in egozentrisches Bespiegeln usw. Die Täuschungen werden
hier endlos.

i Cottasche Jubiläumsausgabe 36,6.
ü Taschenausgabe 10,123.
 
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