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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0322
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Psychologie der Weltanschauungen

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Reaktionen auf die antinomische Situation.
Die antinomische Situation kann auf den Menschen, der sich ihrer - mehr oder weni-
ger - bewußt wird, eine dreifache Wirkung haben:
1. Er wird zerstört: Während der Mensch mit derben Instinkten und unbedingtem
Lebenswillen einfach tut, was ihm vorteilhaft ist, eine naive Sicherheit hat und die Re-
flexion nur als dienendes Werkzeug benutzt, soweit sie für seine Zwecke nützlich ist,
gewinnt der reflektierende und zugleich redliche Mensch eine objektiv durch die An-
tinomien bedingte Unsicherheit. Er will etwas, aber nicht die Mittel, er strebt ein Ziel
an, will aber nicht die Konsequenzen. Er will etwas, aber auch das Gegenteil. Er will al-
lem gerecht werden und geht z.B. keinen Schritt im Erkennen mehr, da alles zweifel-
haft, einseitig ausfallen würde. Je deutlicher überall die Antinomien auftauchen, de-
sto mehr steigert sich die Unsicherheit zur Lähmung alles Handelns und Erkennens
und Lebens.
2. Er drückt sich um die Antinomien herum: Er läßt die Gegensätze einfach unbemerkt
nebeneinander, trotz einander gelten. Oder er stellt Erwägungen an, die auf einer in-
adäquaten Stufe die Gegensätze scheinbar vereinigen; er macht Kompromisse, bedient
sich der Formel »sowohl - als auch«, »weder das eine noch | das andere«, neutralisiert 241
die Gegensätze in einem Schein').303 Oder schließlich und vor allem, er ignoriert je-
weils die eine Seite des Gegensatzpaares in der notwendigen Borniertheit des Handeln-
den: »Der Handelnde ist immer gewissenlos.« - Oder er gibt sich mit der Erkenntnis
der Antinomien resigniert zufrieden, schöpft daraus Berechtigungen für alles, wird
chaotisch, falls er nicht vital-egoistische Kräfte sich rücksichtslos entfalten läßt. Er
drückt sich um die Erschütterungen, um die Prozesse der Verzweiflung und krisenhaf-
ten Umschmelzung mit dem schnellen Trost des »unvermeidlich« herum.
3. Er gewinnt Kraft: Wer die eine Seite ignoriert, hat Kraft trotz der Antinomie, er
weicht aus. Es gibt aber auch Kraft durch die Antinomie. Das Medium der Reflexion, die
unendliche Dialektik des Infragestellens wird redlich, und ohne sie willkürlich oder un-
willkürlich zu beschränken, erfahren. Die konkrete Situation fordert Erfüllung, sie wird
durch das Erleben des Antinomischen in der Entwicklung des Menschen vertieft. In im-
mer neuen Versuchen formelloser lebendiger Synthese zu einem Entschluß, der keine
ratio verleugnet, aber durch keine ratio genügend und allgemeingültig begründet ist,
schreitet der Mensch, nie erstarrend, auf einem unendlichen Wege voran. Ein Einheits-
wille, ohne je die Einheit zu besitzen, entspringt aus der Antinomie für ihn als seine Le-
benskraft. Diese Kraft wird immer nur neu in Erschütterungen erworben, indem zu-
gleich für das Individuum eine Intention auf das Metaphysische, eine Berührung mit
dem Unendlichen unobjektivierbar erlebt wird. Es ist diese Kraft immer ein Wagen, ein

Z.B.: Wenn dem Menschen die Frage lebendig wird, ob er der Autorität eines Führers folgen oder
autonom auf eigene Gefahr und Verantwortung existieren solle, so ist eine solche Scheinlösung
die Formel: »Man wähle mit Freiheit seinen Führer«.
 
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