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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0325
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Psychologie der Weltanschauungen

ter, Krieg und Frieden.310 Nicolaus von Cusa kennt das principium coincidentiae opposi-
torum.311 Unsere Erkenntnis kommt über die Gegensätze nicht fort, sofern sie sich nicht zu je-
ner »Einfachheit der Anschauung erhebt, in welcher die Gegensätze zusammenfallen«. Er will
daher »das Unbegreifliche als unbegreiflich auffassen, in der Wissenschaft des Nichtwissens
(docta ignorantia), durch Hinausgehen über die menschlichen Begriffe von der unzerstörlichen
Wahrheit«. Überall fallen die Gegensätze zusammen: »Das Kleinste koinzidiert mit dem Größ-
ten; die größte Erniedrigung mit der größten Erhöhung; der schmählichste Tod des Frommen
mit dem Leben in der Glorie, wie uns das alles Christi Leben, Leiden und Kreuzestod zeigen.«
Gott ist die Koinzidenz aller Gegensätze. »Da wir im Endlichen, in allem, was anders ist als das
absolut Größte, also im Anderssein erfahrungsgemäß nichts als Gegensätze wahrnehmen, so
folgt, daß das absolut Größte über allen Gegensätzen, die Koinzidenz aller Gegensätze ist. Alle
Gegensätze sind in ihm eine unterschiedslose Einheit, es ist die absolute Identität. Das absolut
Größte ist daher in ihm auch das absolut Kleinste1).«312
Ähnlich sind auch sonst in der christlichen Welt die Formeln von Gott gewesen. Böhme
lehrte, Gott sei die Einheit des Lichts und des Dunkeln, des Zorns und der Liebe, des Guten und
des Bösen.313
Zuletzt sei Hamann314 zitiert, der für das Prinzip der Koinzidenz der Gegensätze die natürli-
che Neigung aller Irrationalisten hatte“).315 Er schreibt: »Nichts scheint leichter als der Sprung
von einem Extrem zum andern und nichts so schwer als ihre Vereinigung zu einem Mittel...
Diese Koinzidenz scheint mir immer der einzige zureichende Grund aller Widersprüche und
der wahre Prozeß ihrer Auflösung und Schlichtung, aller Fehde der gesunden Vernunft und rei-
nen Unvernunft ein Ende zu machen.« An anderer Stelle spricht er von dem »principium coin-
cidentiae oppositorum, welches ich ohne zu wissen warum? liebe und den principiis contradic-
tionis et rationis sufficientis316 immer entgegengesetzt, weil ich letztere von meiner akademischen
Jugend an nicht habe ausstehen können und ohne Manichäismus317 allenthalben Widersprü-
che in den Elementen der materiellen und intellektuellen Welt gefunden habe.«318
In vielen dieser Fälle liegt auf Grund eines zunächst antinomischen Weltbildes das
Ziel in einer mystischen Einheit. Die Mystiker selbst sind reich an Formeln analoger Art.
Die Einheit wird »geschaut« in einer spezifischen Erkenntnisart, in besonderer Erhe-
bung erfahren. Ist die Mystik die beherrschende Lebensform geworden, so ist geradezu
das Gegenteil der lebendigen, antinomischen Persönlichkeiten erreicht. Vor allen An-
tinomien gewinnt der Mensch Ruhe, indem er in mystische Erlebnisse flüchtet. Der
religiöse Mensch kann aber der Möglichkeit nach das antinomische Weltbild in die-
245 sem | Dasein festhalten und in ihm existieren. Das Antinomische bleibt ihm überall
zuletzt als Paradox. Das Paradox zu glauben, kann ihm religiöser Sinn werden in einer
mehr oder weniger bewußten Ablehnung des Mystischen. Religiöse Vorstellungen en-
den ja selbstverständlich ebenso wie die Vorstellungen diesseitigen Erkennens, in An-
tinomien. Diese haben dem Skeptiker gedient, um leicht die Nichtigkeit aller dieser re-
ligiösen Vorstellungen auf rationalem Wege zu zeigen. Aber so wenig die Antinomien

i Die Stellen des Cusanus sind zitiert nach Gildemeister, Hamann, Bd. VI, S. 41-48.
ü An Herder 27. April 1781. Ausgabe von Roth 6,181.
 
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