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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0326
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Psychologie der Weltanschauungen

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das Erkennen letzthin aufheben können, so wenig können die Antinomien des religiö-
sen Vorstellens das religiöse Leben und Erfahren vernichten. Dieses besteht fort trotz
der Antinomie, kann aber nun gerade in einer vehementen Steigerung diese Antino-
mien selbst bejahen, das Paradox als den Angelpunkt des Glaubens erfassen; ähnlich
wie die individualistische Persönlichkeit enthusiastisch das antinomische Weltbild
verherrlicht. Man kann das Wort: credo quia absurdum est,319 für die Formel dieser die
Antinomie als Paradox in das Zentrum des Glaubens stellenden Religiosität halten. Zu-
letzt hat Kierkegaard das Wesen dieses Paradoxes, vielleicht zuerst von Grund aus,
charakterisiert. Seine Darlegung sei wiedergegeben:
In der allseitig antinomischen Situation ist nur eines gewiß: die Existenz, die augenblickli-
che Existenz des Menschen. Dies Bewußtsein der Existenz geht dem Menschen gerade durch
das Bewußtsein der antinomischen Situation auf. Im Gegensatz zum objektiven Denken von
Problemen, Lösen von Widersprüchen, wie es am vorzüglichsten mathematische Erkenntnis
leistet - weshalb nach Kierkegaard alle mathematische Erkenntnis für den Existierenden so
gleichgültig ist - entwickelt sich ein Erlebnis des Ernstes der Existenz, ein Bewußtsein, wie alles
auf das Sichverhalten, das Leben, das Sichentscheiden des Existierenden ankommt. Es ist die
Leidenschaft des Existierenden im Gegensatz zum Dialektischen des nichtexistierenden, nicht-
lebenden Denkers, der am Schreibtisch denkt, was er nie getan und nie gelebt hat.320
Das Erkennen selbst schon kann existierend und in Leidenschaft sein, und dann ist auch, weil
alles reale Existieren an die Grenzsituation des Antinomischen stößt, sofort das Paradox da:
»Denn das Paradox ist des Denkens Leidenschaft, und der Denker ohne Paradox ist wie der Lie-
bende ohne Leidenschaft: ein mittelmäßiger Patron. Jeder Leidenschaft höchste Potenz ist aber,
daß sie ihren eigenen Untergang will; und so ist es auch des Verstandes höchste Leidenschaft,
daß er den Anstoß will, obgleich der Anstoß auf die eine oder andere Weise sein Untergang wer-
den muß. Dies ist also das höchste Paradox des Denkens, etwas zu entdecken, das es selbst nicht
denken kann1).«321 - »Die paradoxe Leidenschaft des Verstandes stößt also beständig gegen die-
ses Unbekannte an, das wohl da ist, aber eben unbekannt ist, und insofern nicht da ist. Weiter
kommt der Verstand nicht... Was | ist nun aber dieses Unbekannte? ... Sagt man von ihm, daß 246
es das Unbekannte sei, da man es nicht kennen könne, oder, könnte man es kennen, es nicht
aussprechen könnte, so ist die Leidenschaft nicht zufriedengestellt, obschon so das Unbekannte
richtig als Grenze aufgefaßt ist; aber die Grenze ist eben die Qual der Leidenschaft, wenn sie
auch zugleich ihr Inzitament ist... Was ist also das Unbekannte? Es ist also die Grenze, zu der
man beständig kommt, und als solche ist es ... das Heterogene, das absolut Verschiedene. Das ab-
solut Verschiedene ist aber das, wofür man keine Kennzeichen hat... Die absolute Verschieden-
heit kann der Verstand auch nicht denken; denn absolut kann er nicht sich selbst negieren, er
benützt vielmehr sich selbst dazu und denkt also die Verschiedenheit in sich selbst, wie er sie
durch sich selbst denkt; und absolut kann er nicht über sich selbst hinausgehen und denkt da-
her nur die Erhabenheit über sich selbst, wie er sie durch sich selbst denkt. Wenn also das Un-
bekannte nicht322 bloß Grenze bleibt, so wird der eine Gedanke über das Verschiedene durch
die mancherlei Gedanken über das Verschiedene verwirrt. Dann ist das Unbekannte in einer

Kierkegaard 6,34. (Zit. nach der bei E. Diederichs erschienenen Übersetzung der Werke Kierke-
gaards).
 
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