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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0328
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Psychologie der Weltanschauungen

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II. Leiden.
Das Gemeinsame aller Grenzsituationen ist, daß sie Leiden bedingen; das Gemeinsame
ist aber auch, daß sie die Kräfte zur Entfaltung bringen, die mit der Lust des Daseins,
des Sinns, des Wachsens einhergehen. Das Leiden ist nicht eine Grenzsituation unter
anderen, sondern alle werden unter dem subjektiven Gesichtspunkt zu Leiden. Lust
und Leid sind unvermeidlich aneinander gekettet. Beide sind etwas Letztes, Überwäl-
tigendes, Unüberwindbares, unserer Situation Wesenshaftes. Als Leiden erfassen wir
immer nur die eine Seite, wir zählen das Wertnegative auf. Es ließe sich vielleicht auch
eine Schilderung des Wertpositiven, der Freude, der Erhebungen, des Sinns versuchen.
Doch besteht ein Unterschied: Für die Betrachtung, die passiv zusieht, ist die antinomi-
sche Grenzsituation, sofern sie auf das Ganze des Daseins geht, doch wieder das Letzte;
während das Positive dem aktiven Leben gehört, das es vermag, zu werten, etwas wich-
tig zu finden, das eine dem anderen vorzuziehen, Wertrangordnung zu erfahren und
zu schaffen, die Kräfte der Ideen zu entwickeln und aus der antinomischen Situation
in unendlicher Synthese voranzuschreiten. Der Reflexion bleibt das Antinomische und
damit das Leiden etwas Letztes, dem Leben nicht. Aber keine betrachtende Reflexion -
die so gut das Elend des Daseins zeigen kann - kann ebenso auch zum Wertpositiven
führen, als nur durch Appell an das Leben.
| Man vergegenwärtige sich z.B.: In der Natur trotz aller »Stimmung« des Zuschau- 248
ers der fortwährende unbarmherzige Kampf alles lebendigen, das Vernichten bei allem
Wachsen. - Die rasenden körperlichen Schmerzen, die immer wieder ertragen werden
müssen. - Des Liebsten beraubt werden. - Die liebsten Menschen bei eigener Ohnmacht
gequält und vernichtet sehen. - Den Untergang einer Kultur, der Kultur überhaupt mit
Bewußtsein erleben. - Das Wollen und nicht Können (Veranlagung, Armut, Krank-
heit). -Jemand, der geisteskrank wird und es merkt. - Die Angst vor dem Tode. - Die
Verzweiflung in unausweichbarer Schuld. - Die nihilistische Erfahrung der Sinnlosig-
keit im Zufall - usw.
Reaktionen.
Der Gegensatz von Lust und Leid, von Wert und Unwert kann verabsolutiert werden,
und zwar so, daß die eine Seite für das Überwiegende gehalten wird. Dann entstehen
Pessimismus und Optimismus, die sich als Gegensätze gegenseitig bedingen und erwek-
ken. Man könnte sie definieren als Verabsolutierung des Wertakzentcharakters über-
haupt. Der Verabsolutierung des 'Wertakzents steht als wesensverschieden die Verab-
solutierung einer 'Wertrangordnung entgegen. Diese führt zur Entwicklung feinsten
Wertempfindens, zum Erfassen der Niveauunterschiede, zu einer außerordentlichen
Differenzierung der Werte. Jene dagegen läßt alle Wertrangordnung leicht in dem
allgemeinen Gegensatz des Guten und Schlechten überhaupt untergehen. Einer
mitleidlosen Gleichgültigkeit gegen das Negative beim aristokratischen Menschen,
der Wertrangordnungen verabsolutiert, tritt aber hier ein feines Empfinden für das
 
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