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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0331
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Psychologie der Weltanschauungen

Zucht, zur Prüfung, machen aus dem Leiden ein bloßes Mittel, nichts Endgültiges.
Durch bestimmte Lebensweisen, durch vorgeschriebenes Verhalten kann man es fort-
bringen. Und was so nicht fortgebracht werden kann, wird verschwinden, wenn man
nur wartet, nachdem es seine gute Wirkung getan hat. Ähnlich ist wohl der heutige
Gedanke, der statt der Zwecke Gottes biologische Zwecke als das Übergeordnete an-
sieht, und das Leiden als biologisch zweckmäßig zu begreifen, zu verteidigen, zu beja-
hen, in Abhängigkeit zu bringen sucht, wobei man den Hintergedanken hat, das Lei-
den sei der Potenz nach ganz abzuschaffen, wenn der Mensch erst sein biologisches
Wissen so vertieft hat, daß er die Situationen, in denen das biologisch zweckmäßige
Leiden entsteht, meiden kann.
Schließlich bejaht man das Leiden, sofern es nicht jedem gleichmäßig zuteil wird,
indem man es in ein Gutes umformt: und zwar im Ressentiment, das das eigene Leid, die
eigene Unwertigkeit in ein Gutes umdeutet; oder in der Rechtfertigung eigenen Glücks,
wobei das Leid anderer diesen als rechtmäßig zukommend - wegen Schuld, Minder-
wertigkeit usw. - angesehen wird. -
Das Leiden gewinnt für den Menschen als Situation einen neuen Charakter, wenn
es als Letztes, als Grenze, als Unabwendbares begriffen wird. Das Leiden ist nichts Einzel-
nes mehr, sondern gehört zur Totalität. Nun reagiert der Mensch:
1. Resigniert: Das heißt eigentlich keine Stellung haben, sich für unfähig erkennen,
die Situation zu verarbeiten. Alle Antworten auf Fragen nach Zweck, Sinn und Recht
des Leidens werden als unmöglich, das Handeln zur Befreiung vom Leiden als hoff-
nungslos erkannt. Mit Hiob bleibt nur der Ausruf: Wer kann dem allgewaltigen Gott
Fragen stellen!333 Die Resignation des Nichtbegreifens hat aber ganz verschiedene wei-
tere Entwicklungsmöglichkeiten: Der Mensch begreift nicht, aber »glaubt« und han-
delt im Konkreten; hier ist die Resignation nur bezüglich der Formeln und des Wissens
vorhanden, sonst ist es gerade die positivste, kräftigste Gestalt. Oder der Mensch be-
schränkt sich auf die Genüsse des Lebens. Wenn auch alles eitel ist (das ist der Trost
des Prediger Salomonis), so kann man doch essen und trinken und Freuden auf Er-
den haben. Dieses Leben hat der Prediger gern: Ein lebendiger Hund ist besser als ein
toter Löwe.334 Auf jeden Sinn, jedes Telos wird verzichtet.
2. Weltflüchtig: Da das Dasein besser nicht wäre, ist der vollkommene apathische
Gleichmut, das Aufgeben jeglichen Leidens und jeglicher Freude, schließlich das
252 Nichts zu erstreben. Das Individuum kommt, sofern es Kraft hat und nur an sich
denkt, zum Selbstmord. Als Weltanschauung bezieht sich aber die Gesinnung auf das
Dasein überhaupt. Welt und Leid sind untrennbar verbunden. Daher kann nur das
Aufhören der Welt erlösen. Es wird eine Lehre entwickelt, die alle Menschen dahin füh-
ren soll. Das kann ganz areligiös und atheistisch gemeint sein. Es brauchen keine mo-
ralischen und religiösen Kräfte dabei zu wirken. Es ist die Erlösung im Nichtsein, ohne
Haß und ohne Liebe zu Leben und Welt.
 
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