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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0332
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Psychologie der Weltanschauungen

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3. Heroisch: Der Mensch stellt sich im Leiden auf sich selbst als Individuum, steigert
sich zu seinem persönlichen Sinn. Er kommt zum Bewußtsein seines Selbst durch das
Leiden. Er weicht ihm nicht aus, sondern nimmt es trotzig auf sich. Er sieht es und er-
trägt es, bis er untergeht. Er bejaht nicht das Dasein, von dem er Endgültiges nicht
weiß, sondern sein Dasein und seinen Sinn. Er steht einsam in der Wüste und fühlt von
sich Leben und Kraft ausgehen, gerade wenn das Leiden zum äußersten kommt.
4. Religiös-metaphysisch: Die Kraft des Heroischen, die Weltindifferenz des zum
Nichts Drängenden, der fraglose Glaube eines Typus der Resignation finden sich zu-
sammen in dem seltenen Erleben und der Gestaltung des Lebens, die auf einer erfah-
renen Beziehung zum Absoluten beruhen, dem gegenüber sich der Mensch nicht mehr
einsam fühlt, wie der Heros, sich aber doch voller Verantwortung auf sich gewiesen
sieht wie dieser. Das Leiden wird, wie in den anderen Fällen, als Endgültiges, Unver-
meidliches, dem Leben und der Welt Wesentliches erfaßt; aber es tritt im Menschen
in der Erschütterung ein an sich gar nicht zu beschreibendes Erleben ein, das sich in
unmittelbaren Ausdrücken der Gottesgewißheit und ferner in Gedankenbildungen
zum Ausdruck bringt, die wörtlich genommen, wie alle Gedanken, eine »endliche«
übersinnliche Welt mit einer Rechtfertigung des Leidens aufbauen, die aber in ihrem
Ursprung unmittelbare paradoxe Projektionen von mystischen Erlebnissen sein müs-
sen, welche genetisch aus der Leidenssituation an der Grenze des Wissens, Wollens
und Könnens entspringen. Es sind Erfahrungen einer Erhebung, Vertiefung, Sinnbe-
reicherung im Leiden, die sich etwa äußern:
1. in der Verbundenheit mit Gott: z.B. Psalm 73: »Wenn ich dich nur habe, so frage ich nicht
nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott,
allezeit meines Herzens Trost und mein Teil.«335
2. in dem Gedanken eines Leidens in der Gottheit selbst. Gott ist im Leide gegenwärtig, er lei-
det mit.
Solche Gedanken, zunächst vielleicht unverbindlicher, naiver Ausdruck des Erlebens, wer-
den aus rationalem Bedürfnis ausgebaut zu einem meta|physischen Weltbild, das lehrt, woher
das Leiden kommt, welchen Sinn es hat, wozu es führt, wie es vergeht. Solche »Rechtfertigung«
des Leidens nennt man seit Leibniz »Theodicee«.336 In solchen Theodiceen schafft sich das Erle-
ben der Grenzsituationen ein festes Gehäuse, das rückwärts alsbald das Erleben in festen Bah-
nen hält, für die Folgenden Selbstverständlichkeit ist und schnell umschlägt in eine neue Art
des Erlebens von Endlichkeiten.
An solchen Theodiceen gibt es die areligiösen, einer biologischen Rechtfertigung (modern),
einer Auflösung in das harmonische Weltall, in dem das Leiden etwas an seiner Stelle für die
Harmonie Nötiges ist (Stoa), der Auffassung des Leidens als Strafe und Zucht. - Alle solche Theo-
diceen, die das Motiv in der Welt selbst suchen, werden fortdauernd durch die Erfahrung wi-
derlegt: durch die Dysteleologie337 in der biologischen Welt, das Nichtsehenkönnen der Harmo-
nie, auch wenn man von allen kleinen Wünschen des Menschen absieht, die Inadäquatheit von
Strafe und Schuld im Einzelschicksal - alles spricht immer dagegen und wiederholt nur die
Grenzsituation zu neuem Erleben. Nur eine metaphysische, niemals erfahrungsmäßig nach-

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