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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0402
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Psychologie der Weltanschauungen

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der Mensch sich irgendwo der Probe, dem Fragen des Rationalen und des Objektiven
in allen Formen überhaupt entzieht. Gerade der Wille kann sich auf dieses Objektive
wenden, nicht auf das Gefühl, das gegeben wird. Er kann die Unendlichkeit des Dia-
lektischen entfalten, die den Entscheidungen des Inneren nicht Kraft, aber Vorausset-
zung ist. Wohl ist die ratio zugleich immer die Gefahr, erstarrendes Gehäuse zu wer-
den und alles Gefühl zu töten, aber das ist nur Gefahr, der die andere der ungeistigen
chaotischen und willkürlichen Gefühlsimpulse gegenübersteht. Sie sind ungeistig, so-
fern sie zusammenhangslos sind, sich nicht auf sich selbst zurückbeziehen, sich darum
nicht in Frage stellen und nicht erproben. Wollen kann man die ratio, Entscheidung
bringt das Gefühl, aber um so tiefer, bestimmter, zusammenhängender, je tiefer und
weiter die ratio ist. Vom Standpunkt einer Betrachtung des lebendigen Geistesprozes-
ses hat der Gefühlsphilosoph recht, wenn er leugnet, daß die ratio das Letzte zu geben
vermöchte, unrecht, wenn er die ratio einschränken oder fortschieben will.
Der Prozeß des Geistes erfährt seine Wendepunkte in einfachen Entschlüssen für
die konkrete Situation; er erfährt sie aber bis zu Umschmelzungen der ganzen Persön-
lichkeit, die in der religiösen Sphäre Wiedergeburten und Bekehrungen genannt wer-
den. Diese in ihren empirischen, so vielfach täuschenden Gestalten zu verfolgen, ist
hier nicht die Aufgabe. Der Prozeß als solcher in seinem Wechselspiel zwischen ratio
und irrationalem Impuls sei noch im Anschluß an ein relativ einfaches Beispiel cha-
rakterisiert:
Franz Neumann1)439 stand vor der Wahl, entweder seine Mutter verlassen und seinem wis-
senschaftlichen Lebensberuf zu folgen oder bei ihr zu bleiben und als Landwirt auf alles Eigene
seiner geistigen Kräfte zu verzichten; die besonderen Konflikte, die die Lage außerordentlich
kompliziert machen, brauchen nicht dargelegt zu werden, um folgenden Brief zu verstehen,
den er nach gefaßtem Entschlüsse an seinen nächsten Freund schrieb: »Karl, teurer Karl, der
Kampf in meiner Brust, glaube ich, ist ausgekämpft. Es war ein heitrer schöner Abend, die Sonne
bedeckte mit ihren letzten Strahlen das bunte Leben und in stille melancholische Ruhe hüllte
sich die Natur, ich durchstrich noch einmal das Feld, dachte an Dich und alle meine Lieben und
an mich - und mit einem Mal und im Nu wurde mir so wunderbar zu Mut, mich ergriff eine un-
gewöhnliche Freudigkeit, in raschen Schritten gings vorwärts - und wie unbedingte Gewißheit
sah ich vor mir stehen: weg von hier, weg, heute oder morgen oder übers Jahr, das war gleich,
aber gewiß war es, weg von hier. Ich kenne solche Momente, wie sie sich in meinem Leben ein-
stellten, so mit einem Mal der Entschluß reifte und da war, und | es mir dann schwer begreiflich
ist, warum es mir nicht lange schon von der Seite erschienen, wie ich so zaghaft um das be-
stimmte Ende herumgetrieben bin. Solche Augenblicke entstehen mir dann ohne mein eigenes
Zutun, gleichsam von außen, gleich wie eine Stimme außer mir, die so klar und verständlich
spricht... So ist es denn beschlossen, heute oder morgen oder übers Jahr mag dahinstehen. Es
ist jetzt aber ein ganz anderer Sinn, in dem ich hier lebe. Es ist eine Ruhe und eine Kälte in mich
eingekehrt, die sich nun nicht mehr rühren läßt, eine dumpfe Stille des verzweifelten Entschlus-

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Franz Neumann, Erinnerungsblätter von Louise Neumann. 2. Aufl. Tübingen 1907, S. r/4ff.
 
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