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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0419
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Psychologie der Weltanschauungen

1. Der chaotische Mensch: Er lebt durch Zufall der Situationen, der Reize, der In-
stinkte, was nicht hindert, daß er das Leben mit Konsequenzmachereien ohne Ver-
bindlichkeit durchsetzt. Er erlebt niemals ernstliche Krisen mit Konsequenzen durch
wirkliche Umschmelzung seines Wesens, dagegen endlos viele Scheinkrisen heftiger
Erschütterung ohne Nachwirkung. Die persönliche Substanz löst sich auf, statt sich
zu festigen. Die vollkommene Erweichung allen Sinns führt zu Haltlosigkeit und, statt
eigenes Gehäuse zu bauen, sucht zuletzt der Mensch nach einem fremden und findet
etwa Ruhe in einer autoritativen Gebundenheit in Kirche, Prophetenfolgschaft usw.
Der Chaotische beginnt mit Kräften, aber sein Verhalten hat die Tendenz zur Nichtig-
keit hin.
2. Der konsequente Mensch: Er ist der Rigorist, der Starrkopf, der Fanatiker, der Logi-
zist. Nachdem einmal Prinzipien gegeben sind, wird an ihnen nicht nur unbedingt
festgehalten, sondern ihre Durchführung in alle Konsequenzen trotz aller Antino-
mien, die längst in der Realität aufgetaucht sind, erstrebt. Er ist blind gegen diese An-
tinomien, hat nur Sinn für bloße Widersprüche, an die als das letzte Böse er glaubt.
Das Leben wird mehr oder weniger mechanisch, rational errechenbar, im Gehäuse der
Konsequenzen erstarrt. Die Form wird schließlich alles, der Inhalt ist entschwunden.
Er hat das Pathos des Unbedingten, aus dem heraus er jeden Kompromiß verachtet.
Von hier aus sieht er den chaotischen Menschen und den gleich zu charakterisieren-
den dämonischen als identisch an; beide sind ihm Kompromißler derselben Art. Das
Leben sieht für ihn eingleisig aus. Darum ist sein Inneres unproblematisch.
3. Der dämonische Mensch: Seiner Undurchsichtigkeit und Rätselhaftigkeit wegen fin-
355 det der alte Sinn des »Dämonischen« in | der antinomischen Synthese eine Repräsen-
tation. Der krisenhafte Umschmelzungsprozeß ist normalerweise etwas Seltenes. Wenn
jene Zirkelbewegung zwischen Ausbau des Gehäuses, antinomischer Infragestellung,
Rückkehr zu den schaffenden Kräften in demselben Menschen immer wiederkehrt, und
zwar in aufsteigender, d.h. assimilierend bewahrender Linie, nicht chaotisch, so spre-
chen wir von einem dämonischen Menschen. Die Glut des Lebensprozesses ist bei ihm
auf das höchste gesteigert. Sowie er Erstarrung im Endlichen merkt, spürt er auch schon
die antinomischen Grenzen. Wenn seine Worte und Taten Programm und Vorbild wer-
den, so fährt er, die Fixierung des Unlebendigen merkend, zurück und verleugnet, was
er war. Es ist ein ewiges »Überwinden«, das im völligen Gegensatz zum Chaos steht.
Jene Krisen sind Prozesse, in denen aus einer Unendlichkeit von Voraussetzungen, die
wir niemals übersehen können, ein Neues wächst. Ganz analog ist die individuelle Le-
bensentscheidung, die nicht nach Grundsatz oder Rezept oder mechanischer Berech-
nung, sondern auf dem Grunde von allem diesem in lebendiger Erfassung der Totalität
der individuellen Lage gewonnen wird: dieses gleichsam Untertauchen und Zurück-
kehren mit dem Entschluß. Während wir als konsequente Menschen uns gern an Be-
rechnung und Rezept als ein Letztes halten, in der Arbeit an dem Gehäuse endlicher
Tätigkeit uns hingeben, befriedigt von der Geltung der Prinzipien dieses Gehäuses,
 
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