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Psychologie der Weltanschauungen
ler Lehre des Lebens bloß Gehäuse bleibt, wenn auch noch so umfassend. Und diese
Möglichkeiten wiederholen sich in der Geschichte des Christentums jedesmal, wenn
die dämonische religiöse Urerfahrung wieder auftritt.
Fassen wir diese Folge der Gestalten ganz allgemein als zeitliche Entwicklungsreihe,
die in sich selbst zurückkehrt: Dem unmittelbaren, dämonischen Leben entspringt eine
aphoristische Lehre nach Situation und Gelegenheit. Diese spaltet sich in den Gegen-
satz einer rigoristisch-konsequenten Systematik und einer chaotischen Freiheitslehre
des extremen Subjektivismus. Aus beiden wird synthetisch ein Gebäude systematischer
357 Totalität in Verständnis des anti|nomischen Lebens, allem sein Recht, seinen Ort ge-
bend. Diese universalen Systeme, die nie »unrecht« haben, weil sie alle Gegensätze auf-
nehmen, sind aber trotz allem fixierte Gehäuse, und das Leben nutzt sie nur als das Me-
dium der Bildung unendlicher Dialektik. Es gehorcht ihnen nicht, aber gedeiht durch
sie, weil sie die unendliche Reflexion, das Antinomische, die Möglichkeiten, die Unter-
scheidungen heranträgt. So bleibt und wird das Leben dämonisch in »vermittelter Un-
mittelbarkeit«.446 Ein Beispiel wäre folgendes: Dem Leben entspringt die logizistische
Verstandesaufklärung des 18. Jahrhunderts einerseits, die chaotische Romantik ande-
rerseits, beiden zusammen entwächst die Lebenslehre in der Totalität des HEGELschen
Systems. Dieses aber als das Medium höchster Reflexionsbildung macht Kierkegaard
möglich, indem es zugleich seine heftigste Opposition wachruft.
Von der Kreisbewegung der Gestalten in der Art der Lehre, die zugleich charakteri-
stisch für die Art der Existenz ist, war so abstrakt die Rede, daß sie den Prozeß in der
Folge der Generationen wie das Leben des Einzelnen umfassen kann, wenn sie in em-
pirischer Einzelanalyse als Idealtypus angelegt wird. Diese Bewegungsprozesse sind in
ähnlicher Weise schließlich etwas, das die ganze Biographie eines Menschen umfaßt,
in dieser aber viele kleinere Kreise bildet bis zu denen im Tageserlebnis. Diese Verman-
nigfaltigung zu verfolgen hat nur kasuistisch Sinn. Hier bleiben wir bei den abstrakten
großen Linien der Typen.
Der dämonische Geist verwirklicht sich, wo auch immer er in der Welt auftritt, in
Fragmenten. Da alle Wirklichkeit endlich ist, der Dämonische aber sich von keiner End-
lichkeit einfangen läßt, sondern im Unendlichen existiert, so kann er zwar seine In-
tention auf Ganzheiten haben, aber in der Verwirklichung läßt er sich nicht täuschen
und bleibt beim Fragment. Dieses Fragmentarische steigert sich durch das stürmische
Drängen von einem Versuch zum anderen, von jedem Werk zum nächsten: Kaum ist
das eine durchgearbeitet, wird schon ein neues wichtig. Im Politischen gewinnt er eine
grandiose Gestalt, bleibt aber relativ zu seiner Größe begrenzt in seiner Wirkung, wenn
er mit den abschließenden und ruhig bauenden Staatsmännern verglichen wird, de-
ren Gehäuse Unterkunft für Generationen gibt (z.B. im Vergleich von Cäsar und
Augustus). Im Wissenschaftlichen ist er tief, entscheidend, ein Wendepunkt im Den-
ken und doch ohne System, ohne Nachfolge, ohne eigentliche Schule, wenn er nicht
etwa nachträglich als Prophet recht verschiedenartig aufgefaßt wird (etwa Heraklit,
Psychologie der Weltanschauungen
ler Lehre des Lebens bloß Gehäuse bleibt, wenn auch noch so umfassend. Und diese
Möglichkeiten wiederholen sich in der Geschichte des Christentums jedesmal, wenn
die dämonische religiöse Urerfahrung wieder auftritt.
Fassen wir diese Folge der Gestalten ganz allgemein als zeitliche Entwicklungsreihe,
die in sich selbst zurückkehrt: Dem unmittelbaren, dämonischen Leben entspringt eine
aphoristische Lehre nach Situation und Gelegenheit. Diese spaltet sich in den Gegen-
satz einer rigoristisch-konsequenten Systematik und einer chaotischen Freiheitslehre
des extremen Subjektivismus. Aus beiden wird synthetisch ein Gebäude systematischer
357 Totalität in Verständnis des anti|nomischen Lebens, allem sein Recht, seinen Ort ge-
bend. Diese universalen Systeme, die nie »unrecht« haben, weil sie alle Gegensätze auf-
nehmen, sind aber trotz allem fixierte Gehäuse, und das Leben nutzt sie nur als das Me-
dium der Bildung unendlicher Dialektik. Es gehorcht ihnen nicht, aber gedeiht durch
sie, weil sie die unendliche Reflexion, das Antinomische, die Möglichkeiten, die Unter-
scheidungen heranträgt. So bleibt und wird das Leben dämonisch in »vermittelter Un-
mittelbarkeit«.446 Ein Beispiel wäre folgendes: Dem Leben entspringt die logizistische
Verstandesaufklärung des 18. Jahrhunderts einerseits, die chaotische Romantik ande-
rerseits, beiden zusammen entwächst die Lebenslehre in der Totalität des HEGELschen
Systems. Dieses aber als das Medium höchster Reflexionsbildung macht Kierkegaard
möglich, indem es zugleich seine heftigste Opposition wachruft.
Von der Kreisbewegung der Gestalten in der Art der Lehre, die zugleich charakteri-
stisch für die Art der Existenz ist, war so abstrakt die Rede, daß sie den Prozeß in der
Folge der Generationen wie das Leben des Einzelnen umfassen kann, wenn sie in em-
pirischer Einzelanalyse als Idealtypus angelegt wird. Diese Bewegungsprozesse sind in
ähnlicher Weise schließlich etwas, das die ganze Biographie eines Menschen umfaßt,
in dieser aber viele kleinere Kreise bildet bis zu denen im Tageserlebnis. Diese Verman-
nigfaltigung zu verfolgen hat nur kasuistisch Sinn. Hier bleiben wir bei den abstrakten
großen Linien der Typen.
Der dämonische Geist verwirklicht sich, wo auch immer er in der Welt auftritt, in
Fragmenten. Da alle Wirklichkeit endlich ist, der Dämonische aber sich von keiner End-
lichkeit einfangen läßt, sondern im Unendlichen existiert, so kann er zwar seine In-
tention auf Ganzheiten haben, aber in der Verwirklichung läßt er sich nicht täuschen
und bleibt beim Fragment. Dieses Fragmentarische steigert sich durch das stürmische
Drängen von einem Versuch zum anderen, von jedem Werk zum nächsten: Kaum ist
das eine durchgearbeitet, wird schon ein neues wichtig. Im Politischen gewinnt er eine
grandiose Gestalt, bleibt aber relativ zu seiner Größe begrenzt in seiner Wirkung, wenn
er mit den abschließenden und ruhig bauenden Staatsmännern verglichen wird, de-
ren Gehäuse Unterkunft für Generationen gibt (z.B. im Vergleich von Cäsar und
Augustus). Im Wissenschaftlichen ist er tief, entscheidend, ein Wendepunkt im Den-
ken und doch ohne System, ohne Nachfolge, ohne eigentliche Schule, wenn er nicht
etwa nachträglich als Prophet recht verschiedenartig aufgefaßt wird (etwa Heraklit,