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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0440
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Psychologie der Weltanschauungen

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was, als ob hier das Leben selbst kommuniziere. Sokrates sagt zwar, er zeuge nicht,
sondern helfe nur. Kierkegaard nennt die indirekte Mitteilung jedoch geradezu »Exi-
stenzmitteilung«.497
Alle Lehre, alles Rationale ist etwas Allgemeines. Darum kann hier nie das Wesentli-
che, das Absolute sein, da die Substanz des Geistes, die Existenz immer zugleich absolut
individuell ist. Darum ist der Geist im Individuum zwar in fortwährender Arbeit zur Klar-
heit und zur Kommunikation hin, aber zugleich immer irgendwie isoliert, irgendwie
einsam. Es gibt für ihn nicht die Möglichkeit, daß ihm im Wesentlichen von Anderen
geraten werde, daß er nach einem objektiven, allgemeinen Prinzip existieren könne.
Aber die indirekte Mitteilung ist ein Faden, der von Mensch zu Mensch das Wesentliche
zu verbinden vermag, ohne es durchleuchten zu können. Der Mensch mit sich selbst
kommt nicht weiter in der Kommunikation als mit dem Anderen. In indirekter Mittei-
lung wirkt er in seiner Existenz auf sich selbst so gut wie auf Andere und erfährt rück-
wärts diese Wirkung. Darum der größte Klarheitsdrang zugleich Kommunikationsdrang
ist und doch alle Klarheit umfaßt ist von dem Dunklen, das indirekt da ist und bewegt.
Der Dämonische erfährt es am intensivsten, daß er sich selbst und Andere nicht
versteht, und Andere ihn letzthin nicht verstehen; und er erfährt das Verstehenwol-
len und Verstandenwerdenwollen | als den vehementesten Trieb. Sowie das Dämoni-
sche erlahmt, kriecht der Mensch in ein Gehäuse, welcher Art auch immer, und fühlt
sich befriedigt im Verständnis. Er wird Führer und Meister, hat Jünger und Nachfol-
ger, statt den unendlichen Prozeß des geistigen Kommunizierens, des Wachsens und
Klärens fortzusetzen. Der Dämonische sträubt sich gegen solches Meister- und Apo-
steltum, in dem der Geist zu Formen erstarrt, nicht bewegter Geist ist, wo selbst die Be-
wegung feste Formen gewinnt. Er stößt den Menschen, der sich unterordnend hinge-
ben will, zurück, statt ihn an sich zu ziehen. Er stellt jede Form in Frage, statt einer
Schar von Anbetern die Schlagworte zu geben. Formeln werden immerfort gebildet,
aber auch alsbald wieder verleugnet.
Die bewußte Kommunikation für Viele, die gewollt werden kann, wird in der Ge-
sinnung der indirekten Mitteilung die unendliche Entwicklung der Dialektik, der Re-
flexion, des Rationalen sein. Dies kann gewollt und kann gelehrt werden. Es ist die
Bildung des Geistes. Möglichst viel verstehen, um zu verstehen, was nicht verständ-
lich ist, formuliert sokratisch Kierkegaard die Aufgabe.498 Der Lebendige verleugnet
nicht die Form, sondern erstrebt sie grenzenlos, er sträubt sich nur gegen die Fixie-
rung in Prinzip oder Totalität, in »Meister«, »Prophet« oder »Apostel«, in »Verband«,
»Schule«, »Kreis«. Er bekennt sich nie endgültig zu einem Menschen, sondern respek-
tiert die Kräfte, wo er sie sieht. Ihm geben etwa Persönlichkeiten wie Sokrates, Kant,
Kierkegaard, Nietzsche die stärksten Impulse, Köpfe wie Hegel die reichste
Bildung. Niemanden kann er vergöttern, in dem allgemeinen Sinne, daß er es natür-
lich findet, daß auch Andere es tun und sich eine menschliche Gemeinschaft dadurch

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