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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0443
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Psychologie der Weltanschauungen

Diese Gegensätze werden alsbald eingehender zu charakterisieren sein. In allen kehrt
382 aber Gemeinsames wieder, das vorweggenommen | sei. Man kann die Frage stellen,
worauf es ankommt: auf das Allgemeine, die Leistung, die Sache, das Ganze oder auf
das Ich, das einzelne Individuum? Ist das letzte Ziel eine objektive Welt von Leistun-
gen, Werken, Werten oder die subjektive Welt der Seele, der einzelnen Persönlichkeit?
Was will man, Kultur oder Mensch, Sache (Werk) oder Persönlichkeit, Staat oder Indi-
viduum? Diese Entweder-Oder sind sichtlich nicht von dem Charakter, daß eine kon-
krete Entscheidung im Entschluß des Einzelnen nötig ist. Es ist ein ganz allgemeiner
Gegensatz für die Betrachtung, für die Formulierungen gehäusebildender Weltan-
schauung. Das Entweder-Oder der lebendigen Persönlichkeit ist konkret, individuell,
einzeln und absolut. Jene Entweder-Oder sind wesentlich nur für Begründungen und
Rechtfertigungen, die auf ein Allgemeines, auf Formeln und System rekurrieren wol-
len.
Werden nun jene Entweder-Oder überhaupt beantwortet und entschieden, dann
entstehen die einseitigen Gestalten des Individualismus und des Universalismus, die
konsequent, rational eindeutig und dadurch für die rationale Einstellung auf formu-
lierte weltanschauliche Gehäuse befriedigend sind. Werden sie nicht beantwortet -
und unbeantwortet läßt sie der lebendige, Halt im Unendlichen suchende Mensch -,
so bestehen die Gegensätze als Antinomien fort, zwischen denen der Strom des Lebens
fließt. Der Betrachter findet dann viele Beziehungen, z.B. daß gerade der Mensch, der
sich immer nur um die »Sache« kümmert, Persönlichkeit wird, insofern diese Sache
seine Sache ist; daß sie seine Sache wird, ist durch eine objektive Entscheidung nicht
erreichbar, sondern gehört dem Entschlüsse im individuellen Entweder-Oder an. Fer-
ner: Alles Allgemeine ist übertragbar, ist Medium der Kommunikation; aber alles, was
restlos allgemein, vollkommen übertragbar geworden ist, ist Mechanismus geworden,
ist toter Apparat.
Der Mensch verhält sich in der Antinomie auf dreifache Weise. Er kann sich dem
Allgemeinen unter-, dem Ganzen einordnen. Er kann sich dem Allgemeinen widerset-
zen, dem Ganzen entziehen. Er kann schließlich der Tendenz nach zum Allgemeinen
werden, sich zum Ganzen erweitern. In den ersten beiden Fällen geschieht immer wie-
der die Loslösung des bloß Allgemeinen und des bloß Individuellen, Subjektiven. Im
dritten Fall scheint eine Durchdringung zu geschehen. Doch ist diese Durchdringung,
sobald sie ganz deutlich wird, die Macht des einzelnen Individuums: Das Individuum
kann als solches existieren, ohne sich zu widersetzen, indem es sich erweitert, als all-
gemeiner Denker, als uomo universale,500 als Führer und Weltgestalter, als vergotteter
383 Mystiker. Der Mensch, | der sich selbst genug ist, kann dies Bewußtsein haben im Ge-
gensatz zum Ganzen oder als identisch geworden mit dem Ganzen. Er ist im letzteren
Fall Individuum nicht gegen das Allgemeine, sondern durch das Allgemeine.
Dem Betrachter kommt dabei immer die kritische Frage: Welches Selbst ist denn
dieses Individuum? Der Mensch ist doch immer ein endliches Selbst, nicht Gott, nicht
 
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