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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0444
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Psychologie der Weltanschauungen

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Staat und Welt, nicht das Denken überhaupt. Sofern der Mensch in jenen Erweiterun-
gen zum Allgemeinen oder Ganzen zu werden glaubt, verliert er gerade sein Selbst oder
bleibt, weil seine Macht und Kraft und die Situationen es erlauben, in aller Erweite-
rung gerade an einem ganz zufälligen endlichen, individuellen Selbst hängen.
Darum sind alle jene drei Verhaltungsweisen zwar bestimmbar, aber vom Stand-
punkt des Lebens aus Sackgassen. Wir erfahren hier, wie immer, daß wir das Leben
selbst nicht fassen, sondern nur seine Produkte, seine Versteinerungen. Aber indem
wir diese gleichsam im Kreise aufbauen, wird unsere Intention auf das Zentrum, das
Leben gerichtet, wenn es auch nicht erkannt und bestimmt wird.
1. Das Allgemeingültige.
Das Allgemeingültige besteht als das Wahre, die Welt des Objektiven, als das ethisch
Rechte, als die Schönheit. Alle Skepsis hindert nicht, daß faktisch immer wieder sol-
ches Allgemeingültige als Forderung erlebt wird, anerkannt und befolgt zu werden.
Das Weltbild des Allgemeinen ist das der zeitlosen Begriffe, Formen, der platoni-
schen Ideen, die nicht werden und nicht geworden sind. Sie bestehen ewig und geben
der sinnlichen Welt des Werdens - dem ewig Individuellen - nur dadurch, daß diese
Welt an ihnen teil hat, oder daß sie in ihr gegenwärtig sind, ein gegenständliches Da-
sein. Dieses Weltbild kann sich so ungeheuer erweitern, wie in der HEGELschen Logik,
es kann täuschend hier selbst die Bewegung, das Werden - aber nur als Kategorie - auf-
nehmen, niemals existiert für es das Individuelle. Es ist immer nur ein Weltbild der Be-
griffe, kein Weltbild des Daseins. Als ruhende Kugel (Parmenides), als unsterblicher
Organismus, in dem alle Gegensätze aufgehoben sind (Timäos Platos), als ewige
Kreisbewegung der Begriffe im bacchantischen Taumel, der als Ganzes ewige Ruhe ist
(Hegel), wird die Welt gesehen, in der das Individuum keinen Platz hat.
Dem Individuum kann nur Aufgabe sein, sich diesem Allgemeinen restlos hinzu-
geben, als Individuum zu verschwinden. Das Höchste ist dem Plato die Kontempla-
tion im Erfassen der Idee; das ist die Befreiung aus dem Gefängnis des sinnlichen, in-
dividuellen Werdens. | Nicht anders ist dies das Höchste dem Aristoteles, und noch
bei Hegel ist der Gipfel das absolute Wissen der Philosophie.
In äußerstem Gegensatz zu dieser Stellung ist die Willkür des Meinens, die Beru-
fung auf mein Gefühl, meinen Glauben. Hiermit isoliert sich das Individuum, dem
Allgemeinen trotzend. Da nur im Allgemeinen, im Reiche des Objektiven, Kommuni-
kation möglich ist, sofern man überhaupt Urteile fällt, Behauptungen aufstellt, bleibt
jedem anderen nur übrig, wenn jemand auf sein Gefühl, seine irrationale, unaufzeig-
bare Erfahrung pocht, ihn allein zu lassen.
Im einen Extrem wird das Individuum, im anderen das Allgemeine ganz und gar
verloren. Es ist das ein klares Entweder-Oder zwischen zwei konsequenten Möglich-
keiten, in die alles Leben immer wieder - vorübergehend - hineingeraten muß, als wel-
che im Augenblick die Situation aufzufassen dem Lebendigen unausweichlich ist. Aber

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