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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0447
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354

Psychologie der Weltanschauungen

nach objektiv, interesselos, d.h. ohne Wahl geprüft wird, ist eine typische Forderung
weltanschaulich-philosophierender Menschen. Man solle alle Weltanschauungen
kennen lernen, alle prüfen und die einleuchtende »wählen«. Klassischer Repräsentant
ist Cicero.506 Er legt auf die Selbständigkeit, die Autonomie des philosophischen Men-
schen so großes Gewicht, er sucht alle Philosophien kennen zu lernen, mit gesundem
Menschenverstand zu prüfen und sich für alles Gute zu entscheiden. Es ist das die
dünne Selbständigkeit, die sich gegenüber der Masse fühlt, aber keine Kraft hat, sich
durchdringen zu lassen. Es ist ein bloß betrachtendes Wählen, das je nach der gerade
vorliegenden Situation auch verschieden ausfällt. Es ist kein Impuls des persönlichen
Wesens. Das Ergebnis ist eine relativistische Einstellung, die allem Konkreten gegen-
über der Entschlußfähigkeit entbehrt, die zwar sehr oft gewählt, aber nie existierend
387 gewählt hat; | es ist im Intellektuellen allein gewählt worden, in der Existenz wird aber
die Wahl immer aufgeschoben. Und vor Katastrophen versagt die ganze Summe des
Gewählten. Es ist das Verfahren des Freidenkers, der sich bildet, Formen und den bon
sens sich aneignet, aber gerade der Kraft des Existierens ermangelt. Ob ich einen Ge-
danken gewählt habe, zeigt sich nur darin, ob ich nach ihm lebe; wie Sokrates lebte,
als ob es Unsterblichkeit gebe. Gerade dieses Leben selbst ist die Wahl, nicht die intel-
lektuelle Entscheidung eines immer so begrenzten, das Antinomische nicht sehenden
gesunden Menschenverstandes. Die vielen philosophischen Systeme liegen zur Wahl.
Wer eines wählt oder aus vielen Wahlen ein neues macht, ist kein existierender Den-
ker, sondern wesenlos beschäftigt. -
Im Handeln ist das Ethische das Allgemeingültige, dem sich hinzugeben nur da-
durch so problematisch wird, daß man im konkreten Falle keineswegs so ohne weite-
res auch material weiß, was denn das Allgemeingültige sei. Die KANTische Philosophie,
die das Pathos dieses Allgemeingültigen in der Ethik hat, formuliert den berühmten
Satz: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer
allgemeinen Gesetzgebung gelten könne«').507 Als das Allgemeingültige kann Kant,
wie er selbst ausdrücklich sagt, nur formale Bestimmungen wie diese erfassen. Gerade
wie die Logik kann die Ethik nur solche Formen als zeitlose, ewige Gespinste erken-
nen, ohne die nichts Gültiges besteht. Wenn aber auch ohne sie nichts gültig ist, so
kommt es für die lebendige Weltanschauung gerade auf den Inhalt an, der in diesen
Formen steht, und der nicht allgemeingültig zu erkennen ist, weil er ewig individuell,
konkret bleibt, sofern er lebendig ist. Das Besondere der KANTischen Ethik ist, daß sie
das ganze Pathos der Allgemeingültigkeit im Ethischen hat, und daß sie zugleich sich
beschränkt auf das philosophisch Erkennbare, die bloßen zeitlosen Formen, und sich
dessen bewußt ist. Daß es hier ein Gesetz gibt, ist das Allgemeingültige, daß dieses Ge-
setz lebendig ergriffen, erkannt werde, dann aber Unterwerfung entgegen allen Nei-

Kritik d. prakt. Vernunft S. 36 (Reclam). Die berühmte Stelle: »Pflicht, du erhabener großer Name'
usw. S. 105.
 
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