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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0448
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Psychologie der Weltanschauungen

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gungen verlangt, ist der pathetische Appell an den Einzelnen und die Bestimmung sei-
ner Autonomie; hier liegt derjenige Wert, »den sich Menschen allein selbst geben
können«.508
Sowie das Allgemeingültige des Ethischen über die bloß formalen Bestimmungen -
die nie materiale, konkrete Imperative sind - hinausgeht, sich in konkreten Grundsät-
zen, Forderungen, Pflichten | niederschlägt, entsteht der Gegensatz des sich allgemein-
gültig gebenden Gehäuses und der individuellen Willkür. Materiale Forderungen wird
der Einzelne sich unvermeidlich immer wieder formulieren, aber er wird sie, solange
die ethische Lebendigkeit da ist, immer wieder einschmelzen und neu schaffen aus
den Impulsen, die zwar immer nur in jenen allgemeingültigen Formen, gehäusebil-
dend, sich zeigen können, wenn sie objektiv werden, die aber in ihnen doch immer
nur eine vorübergehende Gestalt annehmen. Jede solche Gestalt ist endlich, bedingt,
die ethischen Kräfte, die solche Gestalten nach außen setzen, unendlich, unberechen-
bar. Wirklich faßbar allgemeingültig sind nur jene KANTischen ganz formalen Bestim-
mungen, die eben nichts anderes als eine Analyse des Sinns der ethischen Allgemein-
gültigkeit sind; diese Formen sind Bedingung aller konkreten ethischen Gestalten, aber
deren mag wohl keine bestehen, die nicht wieder auflösbar wäre, und ihre Mannigfal-
tigkeit ist unendlich.
Das Ethische hat den Doppelsinn: Einmal werden damit die Kräfte gemeint, die
den materialen Inhalt des Handelns, die Voraussetzungen für die immer unzureichen-
den sprachlich formulierten Grundsätze und Forderungen geben; dann aber gerade
nur die Gestalt, die in Imperativen, im Sollen und in formulierten Grundsätzen vorliegt.
Im ersten Fall werden die lebendigen unendlichen Impulse und ihre Verwicklungen,
im zweiten Falle ihre erstarrten Gehäuse gemeint. Nur das zweite ist präzise bestimm-
bar, aber es ist immer sekundär, ist immer der Funktion nach nur Defensivapparat ge-
gen die Willkür, den Zufall, wenn jene Kräfte versagen, eine Depression durchmachen
und der Mensch sich über die Gefahren hinüberrettet. Jene Kräfte suchen das Allge-
meingültige und werden es ewig suchen; die ethischen Gehäuse besitzen es schon und
verlieren darum schließlich mit zunehmender Erstarrung jene Kräfte.
Es gibt also keine ethische Ruhe in einem Bewußtsein, nun als Einzelner zugleich
allgemeingültig in Unterordnung unter das sittliche Gesetz geworden zu sein, es sei
denn, daß an Stelle des Allgemeinen in seiner Unendlichkeit ein vergewaltigendes Ge-
häuse getreten ist und nun der Einzelne Ruhe in der Unterordnung findet, indem er
sich als Individuum aufgibt. In jenem Prozeß, der das Allgemeingültige immerfort
sucht, wird das lebendige, verantwortliche Subjekt sich nur frei fühlen im Bewußtsein
des Allgemeinen. Welches dieses aber ist, ist vom Standpunkt des Beobachters - den
wir ja hier immerfort allein einnehmen - konkret gesehen immer relativ: der äußerste
Horizont, der letzte Wert für dieses Subjekt, und immer verschieblich in der Zeitfolge:
durch krisenhafte Einschmelzung und Metamorphose in der Selbst- und Welterfah-

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