Metadaten

Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0450
License: Free access  - all rights reserved
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Psychologie der Weltanschauungen

357

des Einzelnen anerkennt. Voraussetzung ist der Glaube an den anderen, daß in ihm,
und der Glaube an mich selbst, daß in mir das Suchen des Allgemeinen entscheidend
sei, aber nicht das Suchen eines Allgemeinen, das gleichsam irgendwo als Formel auf-
findbar sei, sondern des Allgemeinen, das die individuelle Gestalt des Einzelnen in Ent-
faltung ist. Es ist bei solchem gegenseitigen Glauben kein Vorbehalt in der Kommuni-
kation, vielmehr die Bereitwilligkeit, alles zu diskutieren, die Ablehnung jeden Rückzugs
ins Indiskutable. Was an Objektivem, an Konsequenzen, an Inhaltlichem ausdrückbar
ist, das zu erfahren, ist die Bereitschaft vorhanden. Dem Problematischen, dem Unlös-
baren auszuweichen besteht nicht die Absicht. Aber es herrscht der Glaube, daß das Un-
endliche im Einzelnen einen Sinn, einen Weg an der Grenze des Rationalisierten und
Rationalisierbaren mit Verantwortung, mit Unübersehbarkeit, in antinomischer Grenz-
situation finden müsse. Verneint wird gleichmäßig das Festrennen in vorzeitig formu-
lierten Pflichten, das Übernehmen eines Autoritativen und Sichunterordnen einem
Fremden, das nicht mit Evidenz aus der Unendlichkeit der Selbsterfahrung entspringt.
Verneint wird aber auch die Willkür, der Zufall, die Berufung auf mein Gefühl, bevor
alle Gründe und Gegengründe, alle Formeln und alle Problematik ernsthaft erfahren
wurden. Das Ethische ist, wie alles Allgemeine, ein Medium der Kommunikation zwi-
schen Menschen, aber gerade das Allgemeine, Übertragbare daran ist nur der Apparat,
die Zustimmung und die innere Zusammengehörigkeit - nie ohne Liebe, ja die Liebe
selbst - besteht in dem Glauben an den Prozeß, in dem der Einzelne ein Allgemeines
verwirklichen, Selbst - werden will. Dieser Prozeß wird im Kampf auf gleichem Niveau,
nicht um Macht, sondern um die Seele, indirekt in Kommunikation gebracht.
Die Willkür des zufälligen Individuums steht im Gegensatz sowohl zu dem in Ge-
häusen erstarrten Allgemeingültigen wie zu dem lebendigen Prozeß des Allgemeinwer-
dens. Das Subjekt sucht als willkürlich, als endlich-individuell, nicht einen Sinn, nicht
ein Ganzes, | kein »Selbst«, sondern lebt in zahlreichen einzelnen endlichen Gestalten
des Selbst, die z.B. in den besonderen Trieben, den Bedürfnissen nach Lust und Genuß
mannigfacher Natur, in den konkreten Interessen der vitalen, sozialen Existenz, im in-
dividuellen Gefühl sich gegenwärtig wissen. Es entspringt ein unreflektiertes will-
kürliches Handeln je nach Lage und Lust mit dem Telos der empirischen, individuell-
endlichen Existenz, auch dem Telos des artistischen Genießens und Disziplinierens
(dem Idealismus der Willkür).
Der Prozeß, immer problematisch, antinomisch, in ewiger Unruhe, kann als abge-
schlossen in einem Ideal vorgestellt werden, in dem der Einzelne und das Allgemeine
in leibhaftiger Gestalt als zusammenfallend gedacht werden. Diese immer unwirkli-
che Gestalt ist »die schöne Seele«. Schiller charakterisiert sie: »Eine schöne Seele nennt
man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis
zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu
überlassen darf und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben in Wider-
spruch zu stehen. Daher sind bei einer schönen Seele die einzelnen Handlungen ei-

39i
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften